Verzweifelt versuche ich zu schreien, die Hand auf meinem Mund herunterzureißen und Aufmerksamkeit zu erregen. So sehe ich gerade noch das Licht der Straße, bis ich hinter einer Ecke außer Sichtweite verschleppt werde. Verängstigt schlage ich um mich und treffe in das Gesicht des Unbekannten, als auf einmal eine Stimme an mein Ohr auftaucht.
"Miss Chebbert, beruhigen sie sich!! Ich bin es!"
Schockiert reiße ich meine Augen auf und drehe mich langsam zu der Stimme um, die mich wieder sachte loslässt.
"Miss Bain?!", rufe ich unglaubwürdig.
"Ja ja, ich habe ihnen viel zu erzählen. Doch wir müssen fürs Erste leise sein.", flüstert sie und legt ihren Zeigefinger an ihre Lippen.
Verwirrt drehe ich mich um, als ich auf dem Boden einige Meter von uns entfernt einen Schatten entdecke.
"Werden sie verfolgt?", frage ich sie besorgt und verfolge weiter die Bewegungen des Schattens.
"Jawohl.", versichert sie mir mit einem angespannten Kopfnicken. Ich merke sofort, wie ernst die Lage zu sein scheint und mit einem sachten Schultertippen lenkt sie wieder meine Aufmerksamkeit auf sich. Als der Schatten immer größer zu werden scheint, schnappt sie sich blitzartig meine Hand und rennt mit mir entlang der engen Gassen bis zu einem belebten Marktplatz. Der Plan ist klar, Miss Bain versucht durch die vielen Leute außer Sichtweite zu sein. Während sie immer noch meine Hand fest zudrückt, um mich nicht zu verlieren, strömen mir einige Gedanken durch den Kopf. So macht es nur Sinn, weshalb sie heute noch niemand gesehen hat.
"Seit wann werden sie schon verfolgt Miss Bain? Ich konnte sie heute Morgen nirgendwo auffinden.", frage ich sie, während wir schnaufend zwischen den Passanten rennen.
"Ich schätze schon seit gestern Abend, nachdem meine Kutsche von mit Mänteln bedeckten Männern durchsucht wurde."
"Schon seit gestern Abend?!", rufe ich vor Schreck auf. So lange sei sie schon auf der Flucht. Nun merke ich erst, wie ihre schneeweißen Hände zu zittern beginnen. Trotz der angenehmen Temperaturen in der Mittagssonne sind die Nächte sowie die frühen Morgenstunden noch recht kühl. So befürchte ich, dass sie mit ihrem dünnen Stoffkleid gefroren hat.
"Was ist passiert?", hinterfrage ich besorgt, doch Miss Bain hat noch nicht einmal zeit, sich umzudrehen, so zieht sie mich, ohne das ich überhaupt hätte reagieren können in eine vorbeifahrende Straßenbahn. Mutig springt sie auf die metallische Plattform und zieht mich in ihrem Schwung mit nach oben. Sobald sich ihre Hand wieder von meiner löst, blicken wir völlig außer Puste auf die Schienen.
"Ich hoffe, ich konnte sie abschütteln", hustet sie und lehnt sich kreidebleich an das Außenfenster der Bahn. Gerade als sich die Situation wieder zu beruhigen scheint, tauchen drei groß bewaffnete Männer auf. Schwarzbekleidet mit einem großen Umhang, die durch die Menge stürmen und die umhergehenden Passanten brutal zur Seite schieben. Meine Augen werden größer, als die Männer der Bahn wütend hinterherschauen. Einer der Männer schaut mir dabei besonders tief in die Augen. Mit Kohle beschmierte Augen, die sich in dem Schatten der Kapuze verstecken. Beim Anblick erschaudere ich und mir läuft es eiskalt den Rücken runter.
"Sind das ihre Verfolger?", frage ich sie beunruhigt. Es ist das erste Mal, dass ich sie zu Gesicht bekomme.
"Ja, vermutlich Handlanger vom Direktor."
"Meinen sie?".
Zähneknirschend drehe ich mich wieder zu Miss Bain um, die ihre Augen vor Erschöpfung geschlossen hat. Die Arme hatte wohl eine schlaflose Nacht hinter sich. Ich begebe mich vorsichtig zu ihr und lege meine Hand sachte auf ihre Schulter. Ohne zu zögern biete ich ihr meine Hilfe an.
DU LIEST GERADE
Great Misfortune - Lebe deinen Traum
Historical FictionIm viktorianischen England wächst das junge Mädchen Grace auf, die sich schon immer der gesellschaftlichen Normen widersetzte und sich nach Unabhängigkeit und Freiheit sehnt. Etwas, das in dieser Zeit undenkbar ist. Als junge Frau merkt sie schnell...