Wie vom Blitz getroffen, kommt es mir in den Sinn. Steuerverwaltung? Aufgewühlt sprinte ich in die Villa.
"Magda!"
Eine Frau mittleren Alters, mit von der Zeit geprägten grauen Haarsträhnen kommt auf mich zugeeilt, die sich kurzer Hand vor mir verbeugt. Verwirrt von der Situationslage, bleibe ich stur vor ihr stehen und zeige auf unsere Haustüre. Doch anstatt eine Antwort zu bekommen, erhalte ich ein verlegenes Lächeln mit einer räuspernd formulierten Frage.
"Sie haben gerufen?"
Ich weiß ganz genau, dass sie sich auf dumm stellt. Meine Eltern haben bestimmt dafür gesorgt, dass ihre Lippen versiegelt bleiben. Dennoch starte ich einen Versuch.
"Weißt du etwas über den plötzlichen Aufbruch meiner Eltern?"
Ohne mir auch nur ins Gesicht zu sehen, stammelt sie die erwarteten Worte.
"Es tut mir leid Lady Chebbert, aber ich darf ihnen derzeit noch keine Informationen darüber geben."
"Warum nicht?", hacke ich beharrlich nach.
Doch eigentlich muss ich zugeben, dass es mich überfordert. Noch nie gab es eine Situation wie diese. Geschweige denn einen so plötzlich Aufbruch meiner Eltern. Ohne noch etwas zu äußern, lege ich meine Hand mit angewinkeltem Finger an mein Kinn und überlege still vor mich hin. Magda richtet sich auf und beobachtet meine Geste, als ich wie aus dem Nichts zu dem Sessel meines Vaters stürme. Zielstrebend greife ich zu den Zeitungen, um die Artikel zu lesen. Mehrere Minuten blättre ich stürmisch durch die vielen Seiten, um nach Stichwörtern zu suchen, wenigstens um einen Anhaltspunkt zu finden. Doch auch nach einer ganzen Weile, als die Uhr für 18 Uhr schlägt, konnte ich noch immer nichts finden. Die Abendröte durchflutet den großen Raum mit einer warmen rotorangenen Farbe, die künstlerische Gemälde zusammen mit der Vase auf unserem Esstisch kreiert. Aber anstatt diesen Moment zu genießen, kreist mir ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf herum.
"So spät gehen sie noch weg und das, obwohl sie mehrere Tage weg sein werden?"
Während ich aus dem Fenster schaue, hat sich Magda in den Raum geschlichen. Grinsend stellt sie mir eine Tasse Kamillentee hin.
"Ich weiß, dass sie aufgebracht sind und sich Sorgen machen, aber ich versichere ihnen, dass sie bald wieder zurück sein werden."
Konsequent verharre ich in meinem Stuhl.
"Das hat mein Vater auch gesagt...", schnaufe ich.
Sie setzt noch einmal kurz zum Reden an, lächelt aber stattdessen und verlässt wieder den Raum. Kurz vor der Tür bleibt sie jedoch noch einmal stehen und informiert mich ganz nebenbei über ihren Aufbruch.
"Wenn sie noch etwas brauchen, geben sie bitte einer der Bediensteten bescheid, ich werde nun nach Hause gehen. Ich wünsche ihnen noch einen schönen Abend Lady Grace."
"Sie gehen auch?!"
Schockiert wende ich mich vom Fenster ab, als sie sich auch schon ihr besticktes Wolltuch über den Rücken schmeißt. Vollkommen im Stich gelassen, verlässt auch Magda das Haus und verschwindet hinter dem naheliegenden Waldweg. Mit offenem Mund keuche ich, während ich fassungslos wieder die Zeitungen auf den Sessel schmeiße und meinen Tee sowie die Cupcakes mit nach oben in mein Zimmer nehme. Dort setze ich mich an meinen Schreibtisch, als mich auch schon wieder meine derzeitigen Sorgen plagen. Immer wieder versichere ich mir selber, dass der Direktor oder allgemein ich selbst nichts damit zutun haben können. Er wird es nicht sein. Schließlich sind die Beweise heute gut in der Polizeistation angekommen. Sie hat es versprochen, nicht? Ich lege vollkommen entrüstet meinen Kopf auf den Tisch. Mein Blick starrt ins Leere in die Richtung des Fensters, während mein Kopf nur so von Informationen und Gedanken dröhnt. So sehr, dass ich beinahe Kopfschmerzen bekomme. Es macht mich wahnsinnig zu Wissen, dass ich in diesem Moment nichts tun kann. Ich kann weder Miss Bain benachrichtigen, noch kann ich meine Eltern kontaktieren, was mich innerlich förmlich zerfrisst. Frustriert lasse ich meinen Kopf auf den Schreibtisch fallen und blicke zu der weißen Schachtel vor meiner Nase. Langsam schiebe ich sie in meine Richtung und löse die Schleife, um in das Innere der Packung zu sehen. Sofort wird der Raum von einem süßlichen Zuckerduft durchströmt. Ich nehme den schokoladigen Cupcake heraus und beiße einmal kräftig hinein. Der Verkäufer hatte recht, sie schmecken wirklich fruchtiger als man denkt.
DU LIEST GERADE
Great Misfortune - Lebe deinen Traum
Fiksi SejarahIm viktorianischen England wächst das junge Mädchen Grace auf, die sich schon immer der gesellschaftlichen Normen widersetzte und sich nach Unabhängigkeit und Freiheit sehnt. Etwas, das in dieser Zeit undenkbar ist. Als junge Frau merkt sie schnell...