"Wirklich?"
Schockiert entreiße ich ihr wieder das Buch und schlage die passende Seite auf, als ich es ihr wieder auf die Beine lege und eine Reihe von Bildern zeige, auf die ich fokussiert nacheinander tippe.
"Wie sie bestimmt wissen, gibt es in unserer heutigen Zeit einige gefährliche Gangs. Unter anderen die Scuttlers die derzeit Manchester in Schach halten, die High Rib Gang in Liverpool, die berüchtigten Peacky Blinders in Birmingham, die Cock Road Gang im Westen sowie die Forty Elephants bei uns in London."
Gespannt achtet sie weiterhin auf meine Worte, während ich auf die Beschreibung einer ganz bestimmten Gruppe zeige.
"The Jovial Thirty-Two, berüchtigt für ihre gut durchdachten Morde im dunkeln von London und auch unter dem Spitznamen "Eradicator" bekannt."
"Eradicator? Also die Ausrotter? Aber weshalb nicht die Exterminator? Der Begriff wird doch meist in der Gärtnerei verwendet", fragt Miss Bain mit erhobener Augenbraue. Doch als Antwort kann ich nur mit den Schultern zucken und setze wieder zum Lesen an.
"Mit Kohle schwarz geschminkte Augen sowie schwarze Umhänge. Mit eisen gebrannte Symbole an der linken Schulter nahe zum Hals in Sicht der Pulsschlagader. Es wird vermutet, dass je nach Rang die Mitglieder einen Ring mit unterschiedlichen Wappen tragen."
Kurz gefasst, halten wir inne und lesen nochmal jeder für sich die Buchseite durch.
"Wappen also? Von Adelsfamilien aber weshalb? Das Buch veranlasst zu mehr Fragen, als das es beantwortet." schnauft Miss Bain und legt verärgert das Buch auf den Tisch.
"Egal was diese Leute sind oder was deren Hintergründe sind. Der Spitzname klingt nicht sehr einladend und wenn sie sich wirklich sicher sind, dass ihre Verfolger den Beschreibungen entspricht..."
"Haben wir ein mächtiges Problem." liest sie mir von den Lippen ab und versinkt in ihrem Sessel. Ohne das noch weitere Worte benötigt werden, schauen wir uns gegenseitig besorgt in die Augen. Sollte der Fall eintreten, dass der Direktor etwas mit solch einem Clan zutun hat, würde nicht nur sein Ruf zerstört sein, sondern es könnte auch die Verbindung zwischen ihm und des Clans herauskommen. Es wäre wie sein schon unterschriebenes Testament. Da ist es auch egal, ob er ein Mitglied oder ein Auftraggeber ist. Fakt ist, dass er alles erdenkliche versuchen wird, der Polizei fernzubleiben und uns vom Tisch zu räumen. Egal wie. Einer wird wohl immer mit dem Leben bezahlen müssen.
Den restlichen Abend über spürte man die Unruhe in den Gewölben der kleinen Villa. Obwohl die Bediensteten die Situation ausnutzten, dass meine Eltern außer Haus waren und fleißig ihre Arbeit verrichteten, war es still. Ich versank immer mehr in dem Buch, während Miss Bain einige Briefe schrieb um ihren Umkreis über ihre klägliche Situation zu informieren. Selbstverständlich nur mit den nötigsten Details.
Noch am späten Nachmittag schickte ich eine Zofe zum Journalistenhaus um auch Miss Bains Kollegen über ihre Abwesenheit zu informieren. Es wird wohl Tage dauern, bis sich eine Lösung findet, wie wir Miss Bans Sicherheit gewährleisten können. Bis dahin ist sie mein Gast und hoffentlich auch noch sicher in diesem Haus. Doch als wäre die Gesamtsituation nicht schon schlimm genug, platzt die auf dem Weg geschickte Zofe völlig außer Atem in den Essenssaal während wir gerade unser Mal einnehmen.
"Lady Chebbert, lady Chebbert!!"
Ruft sie vollkommen entrüstet mit kleinen Schweißperlen auf der Stirn. Ihre Haut sieht gerade zu am verfallen aus. Schneeweiß, als hätte man ihr das Blut aus den Venen entnommen. Vor Schreck lassen Miss Bain und ich unser Besteck auf den Teller fallen, als die Zofe auch schon zu mir stürmt und mir ins Ohr flüstert.
"Das Hotelzimmer von Miss Bain wurde durchsucht. Polizisten seien schon vor Ort und erkundigen sich über die Lage."
"Durchsucht?! Wie?!", rufe ich wie eine Hyäne ohne Rücksicht auf unseren Gast zu nehmen. Nun schreckt auch Miss Bain hoch die so aussieht, als würde sie durch das ganze Chaos jeden Moment einen Herzinfarkt erleiden. Schlagartig verbeugt die junge Zofe sich tief, den Tränen nahe und antwortet wie aus der Pistole geschossen:
"Journalisten im Büro informierten mich darüber. Das Zimmer sei komplett durchwüstet."
"Wurde etwas geklaut oder gibt es schon Vermutungen über den Täter?"
Kopfschüttelnd richtet sie sich wieder auf.
"Wessen Zimmer wurde durchwüstet?" stellt Miss Bain in den Raum und reißt sich von ihrem Stuhl hoch. Ich schlucke und gebe der jungen Zofe das Zeichen zu gehen, bis nur noch wir beide im Raum sind. Ehe traue ich mich nicht etwas zu sagen. Alsbald sich die große Flügeltür hinter uns schließt fange ich an die Lage zu erklären.
"Es tut mir furchtbar leid, dass ich sie in all das hineingezogen habe..."
Das alles fühlt sich derzeit nur noch wie ein Schlimmer Albtraum an. Miss Bain ist eine selbstbewusste Journalistin. Wenn ich ihr nun das Schlagwort gebe, wird sie es nicht glauben, ehe sie es mit ihren eigenen Augen gesehen hat. Nach einem tiefen Atemzug lege ich wieder zum sprechen an.
"Ich habe gerade erfahren, dass ihr Hotelzimmer durchsucht wurde. Wir beide wissen, dass es vermutlich ihre Verfolger wieder waren."
Wie erwartet stürmt sie sofort aus dem Raum und zieht sich ihren Umhang an, um aus der Tür zu stürmen. Gerade noch rechtzeitig schnappe ich nach ihrer Hand.
"Miss Bain, so warten sie doch!"
Rufe ich hinter ihrem Rücken, den sie von mir weggedreht hat. Entschlossen starrt sie weiterhin gezielt auf die Tür.
"Halten sie mich nicht auf, ich muss das selbst klären."
"Bitte warten sie. Als Journalistin sollten sie doch am besten wissen, dass es nicht gerade klug ist genau jetzt dort hinzugehen. Was wenn die Männer sie finden?"
Miss Bain atmet tief aus, sodass sich ihre Haltung wieder lockert und schaut mir verzweifelt in die Augen.
"Ich weiß... Ich weiß es doch. Doch Miss Chebbert ich habe ihnen etwas verheimlicht."
"Was denn?", hinterfrage ich mit großen Augen.
Mit einem langsamen Schritt dreht sie sich zu mir um, löst sich von meinem festen Griff und entfernt sich einen Schritt von mir. Verunsichert hinterfrage ich ihre Geste, während mein Puls immer weiter steigt.
"Was ist los Miss Bain?
Beschämt neigt sie ihren Kopf zu Boden und faltet ihre Hände zusammen. So kenne ich sie gar nicht. Die sonst so selbstbewusste und selbstsichere Journalistin, die immer ihre Meinung zu etwas äußern würde, steht mucksmäuschen still vor mir.
"Ich verstehe, wenn sie mich dafür hassen werden und nicht mehr mit mir kooperieren wollen... Wirklich, das tue ich."
Mit weiten Augen komme ich auf sie zu, als sie sich wieder entfernt.
"Warum sollte ich das denn tun? Miss Bain seien sie doch nicht so harsch zu sich selbst."
Wie aus dem nichts rafft sie sich wieder auf, mit aufrechter Haltung und sagt:
"Lady Chebbert, bitte nennen sie mich nicht mehr Miss Bain. Mein Name ist Mary Hill und ich bin Mitglied der Forty Elephants. Ich bekam Wind von ihrem Fall und wurde als Spitzel geschickt um herauszufinden, ob der Direktor Herr Godwins ein Mitglied der Jovial Thirty-Two ist... Was sich schließlich bewahrheitet hat. Und wie sie sehen, bin ich aufgeflogen."
Ich bin so perplex, dass mir jegliche Worte fehlen. Ich spüre keinerlei Gefühle. So weiß ich noch nicht einmal, ob ich wütend, traurig oder enttäuscht sein soll. Miss Bain, nein Mary Hill schluchzt und verlässt mit den Worten:
"Es tut mir leid, hiermit muss ich mich von ihnen verabschieden." das Haus.
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Great Misfortune - Lebe deinen Traum
Ficción históricaIm viktorianischen England wächst das junge Mädchen Grace auf, die sich schon immer der gesellschaftlichen Normen widersetzte und sich nach Unabhängigkeit und Freiheit sehnt. Etwas, das in dieser Zeit undenkbar ist. Als junge Frau merkt sie schnell...