Acht

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*** Cassie ***

„Kannst du deinen Bruder von der Schule abholen?", bittet mich meine Mom, die gerade ins Wohnzimmer kommt.

Ich drücke den Pauseknopf auf der Fernbedienung, um nichts von dem Film zu verpassen, den ich mir aus Langeweile ansehe. Besonders spannend ist der Film nicht, weshalb mich die Unterbrechung nur mäßig stört.

„Fährt der Bus nicht?", sage ich und drehe mich zu meiner Mom um.

Mich hat früher auch nie jemand von der Schule abgeholt. Entweder hat Samuel mich in seinem Auto mitgenommen als wir im letzten Jahr waren oder ich musste den Bus nehmen. Naja als jüngstes Kind hat man wohl bestimmte Privilegien.

„Nein und du hast ja ohnehin nichts zu tun", antwortet sie mir und ich höre da einen komischen Unterton in ihrer Stimme.

Sie würde es mir nie direkt sagen, aber es passt ihr nicht, dass ich nur zuhause rumsitze und nichts mache. Nachdem Drama mit Alex habe ich meinen Job in der Bar gekündigt und mein Vorhaben mir eine eigene Bleibe zu suchen erst mal auf Eis gelegt.

„Wenn es unbedingt sein muss", erwidere ich genervt und schalte den Fernseher aus.

Eigentlich habe ich keine Lust darauf den Chauffeur für Tommy zu spielen. Da ich aber auf einen Vortrag darüber, dass ich mir einen Job oder zur Uni gehen sollte, nicht antun möchte, mache ich es. Es wird nicht lange dauern und dann kann ich wieder auf dem Sofa vor mich hin vegetieren. Da ich ja keine wirkliche Wahl habe mache ich den Fernseher aus und gehe nach oben, um mich umzuziehen. Sobald das erledigt ist, hole ich mir den Autoschlüssel des Minivan und gehe nach draußen. Es sit nicht wirklich kalt draußen, aber ich frostele trotzdem ein wenig in dem grauen Kapuzenpulli. Schnell gehe ich ans Auto und steige ein. Wenigstens kann ich die Musik hören, die ich möchte. Einer der Vorteile, wenn man alleine Auto fährt. Es beschwert sich niemand darüber, welche Musik läuft und niemand möchte mit einem reden. Ich genieße die Zeit alleine, die aber leider viel zu kurz ist. Innerhalb von zehn Minuten bin ich an der Schule angekommen und halte auf dem Parkplatz. Ich schreibe meinem Bruder eine kurze nachricht, dass ich vor der Schule im Auto auf ihn warte.

Hoffentlich taucht Lina Roth nicht auf. Schließlich arbeitet sie hier. Ich sehe mich um, aber ich weiß gar nicht so recht wonach ich suche. Wer weiß ob sie noch dasselbe Auto wie damals fährt. Wenn ich Glück habe sieht sie mich in dem Auto meiner Eltern gar nicht und falls doch wüsste ich nicht wieso sie mit mir reden sollte. Unser unerwartetes Treffen in der Bar war bestimmt nicht nur für mich unangenehm. Könnte aber auch sein, dass Lina so betrunken war, dass sie sich nicht mehr daran erinnert. Ich kann nicht beurteilen, wie viel Alkohol sie verträgt und weiß es daher nicht. Vielleicht wäre es für alle Beteiligten besser, wenn sie sich nicht daran erinnern könnte.

Da es noch eine Weile dauert bis die Schule zu Ende ist und ich absolut gar nichts zu tun habe, scrolle ich mich durch sämtliche soziale Netzwerke auf meinem Handy. Sowas ist zwar Zeitverschwendung, aber ich wüsste nicht was ich sonst tun sollte. Ich wäre froh, wenn ich mir mal bei einer klitzekleinen Sache darüber im Klaren sein könnte was ich tun möchte. Ich weiß überhaupt nicht was ich will. Darum springe ich von Studiengang zu Studiengang ohne etwas abzuschließen und treffe mich mit Frauen für belanglosen Sex. Von beiden habe ich gerade eine Pause eingelegt, fragt sich aber wie lange diese Pause anhalten wird. Das Problem dabei ist, dass ich keine Ahnung habe was ich gut kann und mich auf nichts und niemand festlegen kann. Es könnte ja noch etwas besseres auf mich warten.

Plötzlich wird es auf dem Schulhof voll und laut. Die Schule muss zu Ende sein und alle gehen nachhause. Ich stecke mein Handy weg und hoffe, dass mein Bruder sich beeilt. Mein Blick schweift über die Menge von Teenagern und bleibt dann einer Frau hängen. Natürlich keiner anderen als Lina. Schnell sehe ich woanders hin, auch wenn es sehr unwahrscheinlich ist, dass sie mich auch gesehen hat. Neugierig, wie ich bin, schaffe ich es nicht lange wegzusehen.

Lina sieht, wie früher auch immer, wunderschön aus. Auch wenn da noch was anderes ist. Sie sieht müde und nachdenklich, fast traurig aus. Man kann deutlich dunkle Ringe unter ihren Augen erkennen. Lina trägt einen schwarzen Mantel und eine Jeans mit Stiefeletten dazu. Ihre Haare trägt sie offen und ihre Lippen ziert ein dunkles rot. Trotzdem das sie irgendwie unglücklich aussieht, sieht sie heiß aus. Ich beiße mir auf die Unterlippe und versuche nicht daran zu denken, wie sinnlich Lina sein kann.

Die Autotür geht auf und ich spüre, wie meine Wangen heiß werden. Hoffentlich hat Tommy nicht beobachten können, wie ich Frau Roth angesehen habe. Zu meinem Glück kann er keine Gedanken lesen. Man, das wäre sonst echt peinlich.

„Hey", sagt er und wirft seinen Rucksack schwungvoll auf den Rücksitz.

„Hi", murmele ich und wage noch einen Blick in Linas Richtung.

Zu meiner Enttäuschung ist sie weg. Vielleicht hätte ich meine Chance an dem Abend in der Bar einfach nutzen sollen. Ich hätte den Kuss erwidern können und wer weiß was sonst noch passiert wäre?

„Hey! Wo willst du hin?", will Tommy von mir wissen, als ich vom Parkplatz aus links abbiege.

„Nach Hause?", antworte ich verwirrt.

Wohin denn sonst? Ich soll meinen kleinen Bruder von der Schule abholen, aber anscheinend hat meine Mom mir da nicht alles erzählt.

„Du musst mich zum Tanzunterricht fahren", sagt er.

Ich ziehe fragend eine Augenbraue in die Höhe.

„Jetzt guck nicht so, als wüsstest du nichts davon. Ich gehe da schon seit mindestens einem Jahr hin. Wenn ich Musical studieren möchte, muss ich auch tanzen können", sagt er und wirkt ein wenig beleidigt darüber, dass ich es nicht wusste.

Das mein Bruder Tanzstunden nimmt ist mir tatsächlich neu. Wie es aussieht weiß ich nicht besonders viel über ihn. Zu meiner Verteidigung muss man erwähnen, dass Tommy aber auch nie besonders viel von sich erzählt. Andererseits frage ich ihn auch nie was er so treibt. Ich bin viel zu sehr mit mir selbst und meinen eigenen Problemen beschäftigt.

War ich schon immer so? Hätte ich Lina besser kennen können, wenn ich mich nur mehr für ihr Leben interessiert hätte? Das hätte im Endeffekt aber auch nichts daran geändert, dass sie meine Lehrerin war.

Kiss me at midnight Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt