Mit am Gaumen klebender Zunge schrecke ich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder auf.
Offensichtlich habe ich doch noch ein wenig Schlaf gefunden, auch wenn ich mich nicht mehr daran erinnern kann, wie ich vom Badezimmer auf die Plastikplane gelangt bin.
Müde reibe ich mir die Augen und strecke meine Glieder aus, als ich im trüben Dämmerlicht, das wie ein Hauch in die stickige Wohnung dringt, Skar erkenne. Er kniet vor einem Spiegel, aus dem schon Ecken herausgebrochen sind und der trüb von Staub und Flecken ist. Blinzelnd richte ich mich auf und sehe ihm dabei zu, wie er seine Wunden betrachtet und neu verbindet.
»Hast du Schmerzen?«, frage ich leise und seine Augen richten sich durch die reflektierende Glasfläche auf mich. Erst sagt er nichts, knotet stumm den provisorischen Verband um seine Brust fester, dann erhebt er sich seufzend und zieht sich mit langsamen Bewegungen sein zerrissenes Hemd vom Vortag über.
»Beeil dich. Ich will hier weg sein, bevor der Morgen anbricht.« Dann verschwindet er in dem kleinen Badezimmer und ich höre, wie er den Wasserhahn anstellt.
Meine Glieder fühlen sich schwer und missbraucht an, als ich mich erst in die Knie wage und dann ächzend aufstehe.
Jeder Muskel in meinem Körper scheint zu brennen. Ein Jucken jagt über meinen Rücken, bis ich mehrmals mit den Schultern zucke und danach vor dem Spiegel vorsichtig in die Knie gehe. Meinen Wunden geht es wesentlich besser, seit Skar mir die Glassplitter aus der Haut gezogen hat und ich mich selbst habe verbinden können.
Trotzdem scheint mich meine eigene Gestalt erschrecken zu wollen. Blass und mager blicke ich mir selbst entgegen. Die Augen tief liegend, eingefallene Wangen, ausgedünnte Wimpern und spröde Lippen.
Ich sehe tot aus. Tot und leer, denke ich mir und spüre doch nichts weiter als altbekannte Resignation, die schon seit Ewigkeiten auf mir lastet.
Das Goldbraun meiner Augen wirkt im Dunkel farblos und trüb. Ich berühre die Pupille meiner Reflexion, rutsche so nah wie möglich heran, bis meine Nase fast die kalte Oberfläche berührt. Ich sehe weiterhin nur das, was ich mir anders wünsche. Diese Augen ...
Sie sind es, die jedem Menschen zeigen, wer wir sind. Jede Phase lässt sich anhand der Augen unterscheiden.
Als Keim ist der Rand um die Iris glatt und schwarz. Eine undurchdringliche Abgrenzung, die man nur durch farbige Linsen überdecken kann. Mit diesen wäre es möglich, für kurze Zeit unerkannt unter anderen Menschen zu wandeln. Doch nichtsdestotrotz ist es ein Risiko. Denn das Beschaffen der Linsen ist dabei das größte Problem.
Körperlich stehen wir den anderen Phasen in nichts nach. Wir unterscheiden uns kaum voneinander.
Doch die Augen zeigen den wahren, psychischen Zeitpunkt. Sie zeigen den Ausbruch unserer Seelen. Der schwarze Kreis steht für eine sichere, neugeborene Seele, für einen Keim. Ein Kreis aus schmalen, schwarzen Punkten ziert eine wachsende Seele, einen Splitter. Ein rötlicher, dünner Kreis steht für eine erkennende, klarsichtige Seele, für ein Herz.
Und die Augen ohne einen Kreis sind die einer sterbenden, vollkommenen Seele: Die einer Asche.
So oft ich auch prüfend mein Ebenbild anstarre und den eigenen Blick durchbohre, die Augen bleiben dieselben. Mit dunkler Kontur, das nicht zu verkennende Zeichen eines Keimes.
In Städten sind wir in der Hinsicht sicherer als an jedem anderen Ort, denn zumindest schaut hier niemand genauer hin. Somit wird leicht übersehen, dass wir nicht dazu gehören und die dünne Linie, die uns von den anderen Phasen unterscheidet, ist ohne einen genauen Blick nicht erkennbar.
»Ich werde uns bald neue Linsen besorgen«, höre ich Skar sagen und sehe zu ihm herüber. Mit vor der Brust verschränkten Armen steht er im Türrahmen und sein Gesicht wirkt um Jahre gealtert im gräulichen Licht.
»Wenn wir uns beeilen, müssen wir doch nicht am Tag hinaus«, erwidere ich. »Und wir verschwinden doch wieder von hier, oder? Wozu brauchen wir dann die Linsen?«
Skar zuckt mit den Schultern.
»Vielleicht wäre es sicherer, diese Stadt gar nicht erst wieder zu verlassen.« Er tritt auf mich zu und ich lasse mich in den Schneidersitz nieder, die Hände im Schoß und Staub vom Spiegel an meinen Fingerkuppen. »Hier leben so viele Menschen, arm und ärmer auf einem Haufen. Sie werden uns nicht finden, wenn wir vorsichtig sind.«
»Und unsere Suche nach unseren Erinnerungen? Ich meine ... das ist doch unser Plan, oder? Einen Weg in die nächste Phase finden? Splittern?«
»Mal abgesehen davon, dass unser Plan eher 'Überleben' heiß, können wir auch hier in der Stadt erst mal weiter suchen«, bestimmt er und seine Stimme bricht rau in meine Ohren. »Hör mal, sie erwarten doch von uns, dass wir die Stadt verlassen. Wer weiß, ob sie überhaupt Häscher durch die Straßen dieser Stadt schicken. Vielleicht halten sie ein paar Tage noch die Augen offen, doch dann werden sie uns vielleicht – wenn wir Glück haben – für tot oder verschollen erklären und sich nur noch den normalen Patrouillen widmen. Und denen können wir ohne weiteres entgehen.«
»Ich weiß nicht«, murmele ich und schüttele den Kopf. »Was, wenn uns andere Menschen als Keime erkennen? Was, wenn wir verraten werden?«
Skar schnaubt spöttisch und belächelt meine Bedenken.
»Du hast noch nie in der Großstadt gewohnt, hm? Das merkt man. Hast auf dem Land in deinem großen Schloss bei deiner adligen Familie gehaust wie eine Königin.« Er grunzt und sein abwertender Blick lässt mich gefrieren. »Du hast keine Ahnung, wie es hier ist.«
»Dafür kann ich doch nichts«, zische ich und stehe auf, um meine Arme und Beine auszuschütteln. »Das ist nicht meine Schuld.«
»Sicher nicht.« Skar zuckt mit den Schultern. »Glaub mir einfach, wenn ich dir sage, dass sich in der Stadt niemand für uns interessieren wird. Wir können leichter untertauchen. Hier wollen alle nur überleben – und wenn du kein Vermögen hast, machst du dir auch keine Sorgen um deine Leben danach, sondern wie du in diesem Leben durch kommst, klar? Ich besorge uns die Linsen und dann ist das Risiko, aufzufliegen, auch um einiges geringer.«
»Ich weiß nicht, Skar. Mir ist das hier nicht geheuer.« Mir wollen die richtigen Worte nicht einfallen. Hilflos starre ich auf meine Fußspitzen und ziehe die Schultern in die Höhe.
So, als könnte dies meine fehlende Überzeugungskraft wett machen. »Wir wollten doch nach der nächsten Phase suchen.«
»Ja, aber das Jagen durch tote Städte hat uns auch nicht weiter gebracht.« Seine Augen verdunkeln sich. »Du hast noch nie eine deiner Erinnerungen geträumt und meine Erinnerungen helfen mir auch nicht weiter. Was, wenn wir die ganze Zeit falsch gesucht haben, hm?«
Ich schweige. Kann nicht unterscheiden, ob er im Recht oder Unrecht ist. All das macht für mich kaum noch Sinn. Als wäre es egal, wohin wir uns wenden, der Weg bleibt voller Schlaglöcher, die Erde von Kratern und Schluchten durchbrochen. Meine Sicht flimmert und ich gebe auf.
»Gut«, lenke ich ein. »Du hast gewonnen.«
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Vielen lieben Dank für's Lesen! Wenn es dir gefallen hat, würde ich mich über ein Sternchen oder einen Kommentar von dir freuen. :)
Noch einen schönen sonnigen Dienstag wünsche ich!
Liebe Grüße,
Julia
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Die Keime (Old Souls 1)
FantasyAmerika, 2074. Auf der Flucht vor den Menschen, die nach dem Leben der „Keime“ trachten, findet sich Avery als eine der wenigen Überlebenden mit anderen Flüchtlingen zusammen. Verzweifelt sind sie auf der Suche nach dem verlorenen Frieden ihrer Gese...