Ich sinke.
03. Februar 1993
- 28 Jahre vor der Reinigung -
Seit Jahren scheint dein Lächeln wie festgefroren zu sein. Vielleicht liegt es an den Toden, die staubig an unseren Fingerkuppen kleben.
Vielleicht ist es meine Schuld, denke ich und versuche, in deinen Augen die einstige Wärme wiederzufinden. Doch du lässt deine Lider herab wie Vorhänge aus Dunkelheit und versperrst mir den Blick in die Details deiner fehlerlosen, nackten Iris.
Wir waren vor langer Zeit sehr nah an einem Ziel, das wir für das Richtige hielten und mit dem Wort 'Freiheit' in Verbindung brachten.
Damals gab es unsere jetzigen Gedanken noch nicht. Damals hatten wir andere Sichtweisen in unseren Gesichtern kleben.
Jetzt stehen wir wieder hier, am Ort unseres letzten Versagens.
Deine Hand schwebt dicht neben meiner, unsere Handschuhe berühren sich manchmal spielerisch. Du siehst mich nicht an, während ich meine Augen nicht von deinem schweren, von Falten übersäten Profil lassen kann. Deine dünnen Lippen zittern.
»Es ist bald soweit«, sage ich. »Endlich.«
»Komm«, erwiderst du nur und schiebst die Hände in deinen knielangen Mantel. Die altmodische Mütze sitzt schief auf deinem blassen Kopf, sodass ich das Verlangen habe, meine Hände auszustrecken und sie zu richten. Komm, schwingt deine schwere Antwort in meinem Ohr. Ich folge dir und deinem silbrigen Nackenhaar die Treppenstufen der Public Library hinauf.
Den ganzen Tag hat es geschneit und meine Nase fühlt sich eiskalt an und läuft, sodass ich mir immer wieder mit dem Handschuh über die Nasenspitze reiben muss.
Vielleicht wäre es besser, wenn wir nicht hierher zurückkehren würden. Vielleicht gibt es Gnade für uns, wenn wir es uns bloß oft genug wünschen. Ich weiß, du glaubst nicht mehr an all diese Dinge.
Für dich ist das Leben klar und geradlinig geworden. Für dich gibt es keine Abkürzungen mehr. Deine schweren Füße tragen dich wie von selbst durch die geöffneten und hell erleuchteten Flure. Es wird langsam dunkel draußen, doch im warmen Inneren der Bibliothek herrscht eine wohlige Festbeleuchtung.
Die Lesebänke sind um diese Uhrzeit nur noch spärlich besetzt. Hier und dort finden wir einen verklärten Blick, der uns streift, ein Leben, das an uns vorbeizieht. Ich würde jetzt gern meine Hände ausstrecken und mich jemandem anvertrauen. Verraten, was wir vor so langer Zeit verbrochen haben und das uns seither unseren Frieden raubt.
»Nächstes Mal wird alles gut laufen«, hast du mir irgendwann versprochen – da hattest du einen deiner guten Tage. »Karma, Maria. Karma, so nennt sich das heutzutage.« Du hast damals gesagt, dass wir irgendwann allwissend sein werden, dass uns die Erinnerung nicht im Stich lassen wird. Und du hast auf eine Weise Recht behalten, die keinem von uns beiden gefällt.
Ich lasse dich ein paar Schritte vorgehen, beobachte, wie du mit klammen Fingern deinen Mantel aufzuknöpfen versuchst und nach der Hälfte aufgibst.
Deine Hände gehorchen dir kaum noch. Schließlich streifst du nur langsam deine Handschuhe ab und blickst dich um, als hättest du diesen Ort jahrelang nicht mehr gesehen. Dabei sind wir jedes Jahr hier, haben uns jedes Jahr Erinnerungsströme erhofft, haben jedes Mal versucht, an einen unbenannten Ort zurückzukehren, den wir selbst nicht genau zu beschreiben vermögen.
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Die Keime (Old Souls 1)
FantasyAmerika, 2074. Auf der Flucht vor den Menschen, die nach dem Leben der „Keime“ trachten, findet sich Avery als eine der wenigen Überlebenden mit anderen Flüchtlingen zusammen. Verzweifelt sind sie auf der Suche nach dem verlorenen Frieden ihrer Gese...