Mit dem Strom der Zeit scheine ich von einem Extrem zum Nächsten zu wandern. Von Ängstlichkeit zur Panik, bis ich die Gleichgültigkeit erreiche und mich abfinde. Nur um doch wieder von Nervosität und überreizten Sinnen eingeholt zu werden, während ich zu verstehen versuche, was Skar sich von all dem erhofft.
Wer ist Cosima und woher kennen die beiden sich? Mir wird bewusst, dass ich gar nichts über Skars Vergangenheit weiß. Dass er mit keiner Silbe je etwas in der Richtung erwähnt hat. Niemanden. Keine Orte, kein Leben. Wie kann man jemandem trauen, den man gar nicht kennt?
Verdammt, denke ich. Das hier ist ein Fehler. Das hier ist nicht richtig. Doch ich weiß nicht, wie ich aus der Situation hinauskomme, ohne letzten Endes orientierungslos und allein in einer fremden Stadt zu enden. Vor Skar bist du auch allein gewesen, sage ich mir immer und immer wieder. Aber vor Skar habe ich stets nur knapp überlebt und bin nie auch nur einer der überfüllten Städte nahe gekommen.
Damals war alles anders.Jetzt bin ich hier, wir schleichen durch die Nacht und warmer Regen wirft kleine Flecken auf meine Kleidung. Muskeln füllen meinen Körper, die in Flammen zu stehen scheinen, sodass ich bei jedem einzelnen Schritt ächzen könnte und mich nur schwer vom Weinen abhalte.Ich kann mir nicht noch eine Blöße geben. Ich schaffe es nicht, stark zu sein, doch viel schlimmer wäre es, schwach auszusehen.
Erste Helligkeit schimmert hinab auf die schmalen Straßen, als das abwechselnde Laufen und Verstecken, um keinen Passanten zu begegnen, endlich ein Ende hat. Über nasse, metallene Stufen führt Cosima uns hinab in einen Keller, der alles andere als einladend wirkt.Ein Abreißkalender der World Wise hängt an der Wand, das Gesicht irgendeines Schauspielers grinst uns davon entgegen. Daneben befindet sich ein Kühlschrank mit schmutzigen Griffen, auf den irgendjemand eine Kiste mit Bierflaschen gestellt hat.Auch auf dem Fensterbrett steht Braunglas.
Staub flimmert durch die Luft, vom durch die Tür brechenden Wind hochgewirbelt. Ich unterdrücke ein Niesen und will schon fragen, ob wir tatsächlich hier bleiben sollen, als Cosima uns mit einem Wink weiter führt.Tatsächlich ist in der gegenüberliegenden Wand eine schwere Stahltür eingelassen, die mir anfangs gar nicht aufgefallen ist.Ich gleite an Skars Seite, der mir einen flüchtigen Blick zuwirft und seinen linken Mundwinkel zucken lässt. Vielleicht eine Regung stummer Belustigung – ich weiß es nicht genau und bemühe mich, ihn so gut wie möglich zu ignorieren. Als Strafe dafür, dass er mich nicht in seine Pläne einweiht, sodass ich immer und immer wieder auflaufe und das Gefühl habe, allein als Flüchtige dazustehen.
Er ist in dieser Hinsicht keine große Stütze für mich, doch weil er mich beschützt und nicht allein lässt, fühle ich mich schuldig. So sehr, dass ich ihn manchmal regelrecht hasse.Hinter der Stahltür lauert eine Finsternis, an die ich mich erst nach einiger Zeit gewöhne. Blinzelnd taste ich mich an der Metalltür entlang und vermute, dass wir uns in einer Art Flur befinden. Einen Meter weiter ist wieder eine Metalltreppe eingelassen, die der an der Außenseite des Gebäudes ähnelt.Bei jedem Schritt werden die Konturen klarer und ich sehe ein wenig Licht in den oberen Gegenden schimmern. In der ersten Etage befindet sich ein kleines Fenster, doch bricht das wenige Licht noch nicht die Dunkelheit.Es ist leicht zu erkennen, dass sich hinter dem Fenster etwa ein Meter Luft befindet, bevor sich eine weitere Wand erstreckt.
Ein Haus im Haus, denke ich. Stumm folge ich den anderen beiden zwei weitere Etagen hinauf. Meine Wunden jucken schon wieder, während es im Treppenhaus etwas heller wird und mehr wie Grau in Grau wirkt, anstatt vollkommene Schwärze zu tragen. Als hätte jemand einen rußigen Film über meine Augen gelegt.Die Treppe führt noch weiter nach oben, doch Cosima bleibt vor der nächsten Tür stehen. Sie zückt einen Schlüsselchip, schiebt ihn in den Koordinator der Wohnung und wartet. Ein paar Sekunden Stille umfangen uns, danach piepst das Gerät und die Tür lässt sich öffnen.
Eine kleine, blaue Lampe steht auf einem weißen Schrank und wirft bewegliches Licht an die Wände. Eine Welt getaucht in dieses kühle Licht lässt einen wohligen Schauer über meinen Rücken jagen. Doch meine Vorbehalte gegenüber Cosima lichten sich dadurch nicht.
Ich versuche, in Skars Nähe zu bleiben, ohne ihn jedoch zu bedrängen, und betrete den länglichen Flur. Ein Schrank mit Glastüren lehnt an der farblosen, kalten Wand zu unserer Linken und ein türloser Rahmen führt in den nächsten Raum. Zwei weitere Durchgänge sind verschlossen. Cosima legt den Schlüsselchip gemächlich in eine kleine Schale auf der Kommode.Zeitungen, Flyer und ein Plexiglas, ein hauchdünner Tablet Bildschirm, auf dem sich stumm ein Nachrichtensprecher bewegt, liegen daneben. In den Türrahmen hat jemand Perlenschnüre gehängt. Skars Rücken versperrt mir die Sicht auf den Raum dahinter, doch das gibt mir Zeit, meinen Blick hier schweifen zu lassen.
Die Türen haben keine Fenster, sind schmucklos und provisorisch. Doch ich kann hinter einem der Durchgänge leise Musik hören. Und Schritte.
»Kommt schon«, durchbricht Cosima das Schweigen und leitet uns in den einzigen offenen Raum. »Ich hab für euch ein paar Decken zurechtgelegt. Die Couch ist gerade frei geworden.«Sie deutet auf ein hölzernes Gestell, auf dem sich weiße Kissen und lakenartige Bedeckungen stapeln.Der Holzboden wirkt teuer, ebenso wie der weiße Couchtisch und das Eisbärenfell, welches das Zentrum des Raumes schmückt. Ich entdecke mehrere Hologrammbilder an den Wänden und Nachrichten, die lautlos über eine riesige Leinwand laufen.
»Und? Hast du derzeit ein volles Haus?«, fragt Skar und ich blicke kurz zu ihm auf, während er ohne zu fragen eine Zigarette auspackt und sie sich anzündet. Kleine Rauchfäden schlängeln sich durch die Luft; ich atme tief ein.
»Ja, ist ziemlich voll derzeit. Hast dir einen ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht.«
»Es wird nie wieder günstige Zeitpunkte geben, hm?«
»Auch wieder wahr.« Sie rümpft die Nase und zuckt mit den knochigen Schultern. »Wie auch immer. Macht, was ihr wollt, aber bringt mir nicht noch mehr Ärger ins Haus.«
»Keine Angst, wir halten uns bedeckt.«Sie sieht nicht so aus, als würde sie Skars Worten besonders viel Bedeutung beimessen und schnalzt mit der Zunge.
»Ich muss dann los. Und nichts zu danken außerdem.« Skar wäre wohl selbst sowieso nie auf die Idee gekommen, sich bei ihr zu bedanken.Seine freundliche Mimik erscheint mir augenblicklich finsterer als zuvor, sobald Cosima verschwunden ist.
»Gibt es hier ein Bad?«, frage ich ihn und versuche, mich mit den Räumlichkeiten anzufreunden.Skar deutet auf einen weiteren Durchgang, der nur durch ein dunkles Tuch abgeteilt ist. Anscheinend war er schon einmal hier und kennt sich ein wenig aus.»Keine Türen?«
»Beschwer dich nicht bei mir«, schnaubt er und lässt sich auf das provisorische Bett fallen.
»Wieso ist dir nur alles so scheißegal?«Ich warte vergeblich auf eine Antwort. Seine Augen driften ab, während er raucht und seine Lederjacke abstreift. Und ich denke, dass es nicht schlimmer werden kann, als es in diesem Augenblick ist. Die einzige Person, die derzeit in meinem Leben wichtig ist, gibt mir das Gefühl, ihn nicht zu kennen. Es fühlt sich elendig fremd an. Einfach alles. Und er versucht nicht einmal, mich einzuweihen oder zu beruhigen.Was erwartest du? Eine spöttische Stimme setzt sich in meinem Ohr fest. Was erwartest du überhaupt noch?
Ich lasse den Blick durch das geräumige Badezimmer wandern. Auf dem Waschbecken steht eine bunte Ansammlung von Plastikbechern. An einem großen Ständer hängen mehrere Körbe untereinander, manche mehr, manche weniger angefüllt mit Duschkapseln, Schwämmen und Reinigungsfolien. Ich lasse mich auf den Sitz der Toilette gleiten und stütze die Ellenbogen auf den Knien ab. Ich bin müde und meine Augen sind schwer, doch viel schlimmer als die Erschöpfung ist der Ärger, gepaart mit der Nervosität, die jede neue Situation mit sich bringt.Es verwirrt mich, wohin meine Gedanken in manchen Augenblicken ziehen. Immer öfter frage ich mich, ob Skar mich überhaupt leiden kann.Und wenn nicht – was meine Vermutung ist – wieso er sich dann überhaupt mit mir abgibt? Er könnte genauso gut allein fliehen.
Ich weiß, dass er gut klar kam, bevor wir uns getroffen haben. Ich weiß, dass er allein immer besser zurechtkommen würde.»Hör auf zu denken«, murmle ich und presse gleichzeitig meine Hände auf die Lippen.Die Welt hat sich verändert. Ich habe mich verändert. Es bemerken und sich eingestehen, dass es vielleicht gut so ist, kann ich nicht. All die Kleinigkeiten, die ich an mir ändern will, springen mir unaufhörlich in die brennenden Augen. Müde nehme ich die Linsen heraus und hoffe, somit zumindest den physischen Ballast ablegen zu können.Ich würde gern splittern und all das hinter mir lassen.Doch auf welcher Seite stehst du dann?, fragt sich mein Verstand immer wieder. Bist du dann Befürworter der Auslöschung der Keime? Oder sagst du dich vollkommen frei, so wie die Nomaden es tun?Die Wahrheit ist, ich wüsste wahrscheinlich gar nicht, wie ich mit all dem umgehen sollte, wenn sich der Zeiger wieder drehen würde. Ich wäre genauso hilflos wie jetzt.
Vielleicht frei, aber trotzdem hilflos.
Ich seufze und trete an das Waschbecken. Ein breiter Spiegel hängt darüber, doch ich starre verkrampft auf meine Hände, als ich kaltes Wasser über sie laufen lasse.Die Linsen habe ich auf der kleinen Kommode liegen gelassen. Im Licht schimmern sie in allen Regenbogenfarben. Die Freiheit, die sie bringen sollen, fühlt sich so an, wie sie es ist: Gefälscht.
Müde stelle ich das Wasser wieder ab und schüttele die Tropfen von meinen Fingerspitzen. Dann greife ich nach einem Handtuch und putze mir die Haut mit dem untersten Zipfel trocken. In all der Zeit wage ich nur einen kurzen Blick zurück, zum Traum und zu dem Dosenessen mit Skar. Zu den lustigeren Streitigkeiten. Mir ist alles lieber als dieses Schweigen.Als ich aus dem Bad zurückkehre, sitzt Skar immer noch da, die Beine am Couchtisch abstützend und an die Decke starrend. Sein silbrig durchzogenes Haar kräuselt sich auf dem weißen Tuch. Graue Schläfen – er sieht müde aus.
»Wir sollten reden«, wage ich einen vorsichtigen Versuch, ihn nicht anzugreifen und mich stattdessen vernünftig mit ihm zu unterhalten.
»Hmpf?«, macht er bloß und sieht weg. Statt mich anzublicken, schiebt er seinen Arm über die Lehne des Sofas und lässt ihn dort baumeln. Ich setze mich im Schneidersitz auf den Boden und starre auf meine Hände, als würde ich dort meine Worte wiederfinden können.
»Ich finde es nicht fair, dass du von mir verlangst, dass ich dir blind vertraue. Du ... du erzählst mir nie etwas.«Ich fasse Mut und versuche, die Barriere der Furcht zu überwinden. Es kann doch nicht wirklich sein, dass ich noch immer Angst davor habe, ihn zu reizen? Doch ich hasse es, wenn er nicht mit mir spricht, wenn er mich ignoriert oder so tut, als wäre ich nicht einer Antwort würdig.Ich versuche, ihm Respekt entgegenzubringen. Nicht nur, weil er mehr Erfahrung hat und älter ist als ich, sondern auch, weil ich das Gefühl habe, dass man sich so verhält. Weil ich ebenso von ihm behandelt werden will, wie ich ihn behandle.»Es geht einfach nicht, dass du mich vor vollendete Tatsachen stellst, hörst du? Es geht so nicht.«
»Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, was dein Problem ist, Kindchen.«
Ich ziehe zischend die Luft durch meine Zähne in die Lungen, doch er lacht nur spöttisch.
»Ich hab mich nie dazu verpflichtet, dein Sorgenberater zu sein. Ich hab' weder Bock auf deine Launen, noch auf deine Furcht. Ich bringe uns hier durch, wir haben ein Ziel und das ist alles. Wir ... sind lediglich zwei Individuen, die zufällig das gleiche Ziel haben.«
»Das ist es ja! Was ist unser Ziel? Was willst du überhaupt? Denn so wie ich das sehe, bist du es, der alles bestimmt, und ich soll tatenlos dabei zusehen und nicken und dich machen lassen, ohne zu wissen, um was es sich überhaupt dreht! Das ist nicht nur dein Leben, wie du sagst, ich bin auch noch da. Und scheiße, ja, ich bin ein Mensch, Skar! Ich bin ein Mensch, der eben auch mal normal reden will, ohne Angst davor haben zu müssen, dass du mich niedermachst oder mich ignorierst! Ich ...« Ich schnappe nach Luft und meine Hände drücken sich automatisch in den Teppich.Skars Blick liegt auf mir, seelenruhig.»Du gibst mir nicht einmal die Chance, an dich heranzukommen. Ich bin auch nicht scharf darauf, mit dir befreundet zu sein oder dich zu verstehen, aber ... wenn ich für dich nur irgendein Individuum bin, das zufällig den gleichen Weg gehen muss, dann solltest du vielleicht tatsächlich allein reisen!« Ich zittere und unterdrücke das krampfhafte Einatmen, das sich bei meiner heftigen Ansprache eingestellt hat. Meine Lungen pressen sich zusammen. »Ich weiß ja gar nicht, wie ich dir vertrauen soll, wenn ich dich gar nicht richtig kenne.«
Skar sieht mich noch ein paar Sekunden lang an, dann seufzt er, drückt seinen Zigarettenstummel auf einer Zeitschrift aus, die auf dem weißen Tisch liegt, und erhebt sich.»Du siehst die Dinge viel zu ernst, Avery.« Ein schmales, undeutliches Lächeln schwebt auf seinen Lippen. »Und du suchst Probleme, wo gar keine sind. Lass es einfach gut sein.«Ohne einen weiteren Blick zu mir, verschwindet er im Bad. Ich höre, wie er das Wasser anstellt und sich mehrfach räuspert. Meine Hände gleiten zum Sofa, ich ziehe mich hinauf und schlinge eine der Decken um mich, bis meine Finger sich nicht länger taub anfühlen vom krampfhaften Krallen in das Bärenfell. Ich hasse ihn, denke ich. Ich hasse ihn, ich hasse ihn.
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Vielen Dank fürs Lesen des neuesten Kapitels! :) Wenn dir Old Souls [Die Keime] gefällt, würde ich mich sehr über einen Stern und/oder einen Kommentar freuen! Sharing is caring! ♥
Liebe Grüße,Juls
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Die Keime (Old Souls 1)
FantasyAmerika, 2074. Auf der Flucht vor den Menschen, die nach dem Leben der „Keime“ trachten, findet sich Avery als eine der wenigen Überlebenden mit anderen Flüchtlingen zusammen. Verzweifelt sind sie auf der Suche nach dem verlorenen Frieden ihrer Gese...