Kapitel 3 - Manchmal weniger hier als sonst wo

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Unsere Seelen wandern über die Erde, leben, lassen sich treiben und zergehen.

Ein Satz, den er besser kennt als jeden anderen. Den er tausendmal gehört hat, mal flüsternd, manchmal weinend, ab und zu lag er in einem Blick oder begleitete ein Seufzen. Oft wurde er nicht ausgesprochen und duftete doch in der Luft. Als wäre er eine Erklärung für alles, als stecke in ihm die Antwort aller Fragen. Als könne er die Dinge ändern.

»Cash«, krächzt sie seinen Namen in den Transferhörer und er kann ihren vollen Atem hören. Schwer von Gedanken und unausge­sprochenen Vorwürfen. Es klingelt in seinen Ohren, sein Blick geht starr aus der Frontscheibe des Jeeps. Er lauscht und hört doch nicht hin. Sagt nichts, bleibt stumm, bis sie denkt, dass er nicht einmal mehr anwesend ist. »Verdammt, Cash. Wir brauchen dich hier. Du kannst doch nicht ein­fach weglaufen.«

Schweigen folgt und Cashs Lippen zucken. Seine Augen sind blutunterlaufen. Er will nicht sprechen. Sein Mund ist so fest verschlossen, dass kalkweiß gar kein Ausdruck mehr ist. »Ich weiß, dass du da bist, ich ... ich kann dich doch atmen hö­ren. Komm schon! Du kannst nicht einfach vor der Ver­antwor­tung weglaufen, klar?«

Cash will antworten. Er will sagen, dass er Ruhe braucht, doch noch immer fühlen sich seine Lippen taub an. Als wäre dies nicht sein Körper, als wären ihm seine Glieder und Organe vollkommen fremd. Er hört sie seufzen und schließt die Augen, das kaum hörbare Brummen des Elektromotors im Ohr. Und in einer flüssigen Bewegung schmeißt er den Transferer auf den Beifahrersitz und lässt sie weiterreden, ohne dass er noch zuhört.

Wohin mit den Gedanken, den Vorwürfen, wenn sie ihn nicht erreichen? Die Stille in seinem Kopf ist so massiv und viel lauter als alle Worte, die seine Tante an ihn richten kann. Soll sie doch den Clan weiterführen. Soll sie das Erbe seiner Eltern schützen. Bei ihm ist es Leere, die seinen Körper bewohnt, seit seine Familie von ihm gegangen ist. Wenn nicht sogar weniger als das. Dieses Gefühl ist namenlos.

Seit seine Eltern zur Asche geworden und nicht zurückgekehrt sind, kommt Cash alles schwerer und sinnloser vor. Er kann sie nicht mehr spüren, sie sind nicht mehr existent und ein Schauer jagt bei dem Gedanken wild über seinen Rücken. Kribbeln über Wirbel für Wirbel, bis er einen erstickten Schrei ausstößt und die Wodka-Flasche fester umgreift. Beißende Bitterkeit herrscht auf seiner Zunge, sobald er einen Schluck nimmt und die Gedanken zu ersticken versucht. Als könne er sie wegwischen wie alten Staub auf alleingelassenen Möbeln.

Doch sie bleiben, setzen sich wie Zecken in seinen Kopf, lassen ihn keine Ruhe finden. Tränen brennen in seinen Augen, Bilder tanzen vor ihm auf und ab. Flecken, die zu Konturen, Armen, Schenkeln, Füßen werden. Seine Eltern, die streiten. Sein Vater, ein seliges Grinsen, wutverzerrte Maske, grobe, verletzende Worte und dann Versöhnung. Trost. Vertrauen. Bruch. Leben.

Dabei ist es nicht immer so gewesen, nicht immer haben sie sich als Asche fürchten müssen, sondern die Wiederkehr ersehnt. Nur jetzt, da niemand mehr wiedergeboren wird, klebt Angst wie trübes Gift in den Augen aller.

Frustriert setzt sich eine Verwünschung in Cashs Kopf.

Die Keime sind schuld, an ihnen klebt das Blut seiner Eltern. Doch selbst der Hass bleibt nicht länger, als würde alles nach und nach wie Wachs von seiner Haut tropfen und eine vage Schicht der Taubheit zurücklassen.

Cash fragt sich, wie er die Beerdigung überhaupt hat überstehen können, ohne eine einzige Träne zu vergeuden. Ohne sich eine Schwäche geben zu müssen. Das Verstreuen ihrer Asche und die Nachrichten, die die Nomaden mittlerweile durch die Weltgeschichte tragen – und die er anfangs als pure Schwarzmalerei, neuartigen Blödsinn betitelt hat – jagen wild durch­ seinen Kopf. Erst waren es nur Gerüchte, aber mittlerweile gibt es Beweise, dass sie nicht wiederkehren.

Das heißt, dass er die Seelen seiner Eltern nie wieder treffen wird.

Er kann es fühlen. Ihre Abwesenheit. Er weiß vom endgültigen Verlust, wie er noch nie zuvor etwas wusste.

Zittrig kratzt er sich die Haut am Hals wund, als er versucht, den eng umschlungenen Halt der Krawatte zu lösen. Unglaublich, dass er sich in diesen fein geschnittenen Anzug gequält hat. Aus welchem Grund bloß? Um zu feiern, dass sie nicht wiederkommen werden, dass er alles verloren hat? Familienhaus, Vertrauen und die letzte Sicherheit.

Der Wagen nimmt schlenkernd eine Kurve. Jede Abbie­gung wird vom Autopiloten angesagt, beschriftet und strukturiert. Die roten Fäden der eingebauten Straßenkarte ziehen sich über die Frontscheibe. Falsche Wege werden aussortiert. Bis Cash gar nicht mehr weiß, welches Ziel er überhaupt in den Koordinator eingegeben hat.

Er nimmt noch einen Schluck aus der Flasche. Der Wodka brennt vielversprechend in seiner Kehle und Wärme bringt sein Inneres zum Glühen, zum Zergehen, zum Glauben.

Dann legt er den Alkohol endlich beiseite und seine müden Finger gleiten zum Koordinator. Das Bild schwankt vor seinen Augen, als er ihn abstellt und selbst das Lenkrad übernimmt. Rapide senkt sich das Fahrtempo, das Dunkel der Nacht verformt sich zu Teerflächen und Balustraden.

Er verlässt die überfüllte Autobahn so bald wie möglich und der Wagen macht kleine Schlenker. Cash beißt sich konzentriert auf die raue Unterlippe. Träge blinzelnd, weil er die Straße kaum sehen kann, stiert er aus der gepanzerten Frontscheibe. Ein Leucht­schild, mit flimmernder Werbung an der Seite, teilt ihm mit, dass er eine der unzähligen Vorstädte erreicht hat. Die Straßen sind vollgestopft und schon an der nächsten Abbiegung bildet sich ein Stau. So nimmt er knurrend die nächstbeste Abfahrt. Dahinter befindet sich ein altmodischer Rastplatz ohne Selbstbedienung und Koordinationsplätze. Nicht einmal technische Parkhilfen sind vorhanden. Die alten Toiletten sind abgesperrt und versiegelt – hier hält eigentlich niemand mehr, um Rast zu machen.

Cash lässt den Wagen langsam über den breiten Platz rollen, dann schaltet er den Motor ab und lehnt sich mit bebenden Gliedern im Sitz zurück. Seine Knie zittern, fühlen sich weich an, als hätte er gerade einen Triathlon hinter sich gebracht. Wenn Einsamkeit eine Krankheit ist, wieso kann er dann nicht an ihr sterben? Hat er sich doch schon vor Ewigkeiten mit ihr infiziert, trägt sie wie eine Maske. Wie eine zweite, unverkennbare Haut. Ausgeburt der Verzweiflung und das Echo vergangener Zeiten pocht zwischen seinen Schulterblättern. Er ist allein.

Atemlosigkeit – wenigstens für einen Augenblick. Er starrt und weiß nicht, wohin mit diesem Knoten in der Brust, der sich so fest und eisig um sein Herz schließt.

Schließlich schüttelt Cash alles mit einem Ächzen ab und setzt die Flasche zurück an seine Lippen, um die letzten bitteren Wodkatropfen in seinen Mund gleiten zu lassen. Er betätigt den Knopf, der das Kühlfach an seiner Seite aufspringen lässt und es dauert nicht lang, da hat er den teuren Gin hervorgekramt und schiebt sich träge aus dem Auto.

Wie ein Seefahrer auf wiederentdecktem Boden schwankt er über den Asphalt, während sich die Tür des Jeeps automatisch schließt. Zittrig stellt Cash seine Flasche auf der Motorhaube ab, nur um ein paar Meter rückwärts zu stolpern und dann in einem Anlauf ebenfalls auf das warme Blech zu springen.

Seine Hände geben nach, flach wie eine Flunder liegt er dort und rappelt sich erst nach ein paar Minuten wieder auf. Langsam greift er zur Flasche, die Autoscheibe im Rücken und die Nacht vor sich aufgetürmt. In der Ferne hängt der Smog der Stadt in der Luft, doch obwohl es hier schon wesentlich lauter ist als auf dem Land und im Hause seiner Eltern, ist es kaum vergleichbar mit dem Krach, der im wahren Zentrum der Stadt herrscht.

Vor ein paar Stunden noch hat er nicht gewusst, ob er zur Universität auf dem Land fahren soll oder es ihn doch weiter fort, vielleicht an einen fremden Ort, zieht. Nur zuhause bleiben, an diesem früher bekannten und geliebten Ort, das wusste er, dass er es nicht kann. Er will nicht länger stehen bleiben, nicht mehr denken. In der Universität wäre er zwar nicht allein, aber sicher warteten tausende Mails und Holotransfers in Form von Beileidsbekundungen auf ihn. Und Felipe würde dort sein, ihn ansehen, ihn vielleicht sogar zu trösten versuchen.

Nein, er kann jetzt nicht zurück an die Universität und es ist ihm egal, was seine Tante, die ihn dazu bewegen will, die Clan-Führung zu übernehmen, dazu zu sagen hat.

So schnell wie der Morgen mit Nebel und Morgentau weckt, so geht auch der Gin zur Neige und die Gedanken schwinden. Die Sorgen werden kleiner, bis sie nur noch Schatten ihrer selbst sind und in seinem Herzen Nester bauen. Gedanken, die er vor dem eigenen Bewusstsein achtsam versteckt. Weil es alles bricht und ermüdet, wenn er denkt.

Die Keime (Old Souls 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt