Auf dem goldenen Schweif, den seine Augen mit sich ziehen, will ich mich betten und ihm die Wimpern müde küssen. Mein Name wie ein Flüstern in seinen gebrochenen, weichverzerrten Mundwinkeln. Avery, du scheinst so schön. Avery ...
Ich weiß manchmal nicht, wohin mich all das führen soll. Wo der Sinn ist, wenn die Welt im blutigen Koma schläft. Seit Ewigkeiten empfinde ich schon so, es fühlt sich unecht und fremd an und ich habe Angst, ganz zu vergessen, dass es auch anders sein kann.
Dieses Leben ist nur ein gelebtes von vielen – alles andere entzieht sich meinem Wissen. Das ist alles, was sicher ist und sicher bleiben wird. Die Gewissheit, dass es auch einmal anders gewesen ist.
Heute sehe ich den Tag nicht mehr verstreichen und lebe in der Nacht, denn sie ist das Einzige, das mich halten kann. Sie gibt Schutz, in ihr leben wir und sind so sicher, wie sonst an keinem Ort.
Ich bin jung – und doch werde ich gesucht, gejagt und verfolgt. Sie alle denken, ich wäre giftig. Ich bin ein Keim von wenigen noch lebenden, und es gibt so viele Gründe, die mich zum Feind aller machen.
Wir sind fragil, die schwächsten Teile des Universums, und wenn wir uns nicht verändern und die nächste Phase erreichen, wird nie eine Lösung möglich sein.
In dieser Welt gibt es vier Phasen, die ein Mensch durchleben muss, um wiedergeboren zu werden. Die erste Phase ist die der Keime. Jeder wird als Keim geboren. Wenn man Glück hat, wird man bald zum Splitter und danach zum Herzen und schließlich zur Asche, bevor man stirbt und wiedergeboren wird. Wer die Asche-Phase nicht erreicht, kann nicht wiedergeboren werden und dessen Seele vergeht für immer.
Vier Phasen und nur ein einziges Leben, um die Ewigkeit zu erreichen.
Ich weiß noch, wie meine Mutter zur Asche wurde und mir versprach, wir würden uns wiedersehen.
Und ich weiß noch, wie wir ihre staubigen Überreste auf unserem Land verstreuten und niemand weinte, alle träumten davon, selbst zur Asche zu werden – früher oder später – niemand will vergehen, ohne Zukunft zu schmecken. Alle streben wir nach Perfektion, nach dem Nachleben, nach der Wiederkehr. Vor etwa einem Jahr hat sich jedoch alles verändert. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, aber plötzlich füllten Neuigkeiten die Nachrichtenkanäle. Sie alle riefen, dass die Wiedergeburt nicht mehr möglich sei und wir alle dazu verdammt wären, zu sterben. Wenn es keine Wiedergeburt gibt, hat das Leben überhaupt einen Sinn?
Wie bei allem haben sie jemanden gesucht, den sie dafür verantwortlich machen können. Wir Keime, die Menschen in der ersten Phase, haben dran glauben müssen. Jetzt werden wir gejagt, weil es heißt, dass es zu viele von uns gibt und wir die Tore zur Wiedergeburt verstopfen. Als wären wir nichts weiter als Schlamm, der beiseitegeschaffen werden muss.
Regen schimmert auf den zerstörten Straßen der Stadt, in die Skar und ich uns geflüchtet haben, gleitet schwer von den Dächern und stürzt sich zu Boden. Und ich blicke hinaus in die Nacht, meine Lider so furchtbar schwer, als würde mich eine innere Schwäche befallen, mir die Beine brechen und meine Kniescheiben aus meinem Fleisch drücken.
Ich kann nicht atmen in diesem Augenblick, gefangen von Furcht und Einsamkeit, die seit ein paar Stunden in der Wohnung eingezogen ist. Ich bin allein. Mein Blick gleitet wieder zu dem kleinen Wecker, der neben der alten, löchrigen Matratze steht und auf der die 23:46 festgewachsen zu sein scheint.
Zu oft in den letzten zwei Stunden habe ich sie angestarrt und die Sorge lässt sich nicht mehr aus den Falten meines billigen Pullovers raus wischen. Skar ist immer noch nicht zurück – und seine Abwesenheit löst pure Panik in mir aus, ich kann sie wie dicken Teer und giftig wie Quecksilber in meinen Venen kochen spüren. Nichts ist richtig, wenn er nicht hier ist.
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Die Keime (Old Souls 1)
FantasíaAmerika, 2074. Auf der Flucht vor den Menschen, die nach dem Leben der „Keime“ trachten, findet sich Avery als eine der wenigen Überlebenden mit anderen Flüchtlingen zusammen. Verzweifelt sind sie auf der Suche nach dem verlorenen Frieden ihrer Gese...