Sprachlos

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Ich wusste nicht wie lange ich alleine in dem Raum saß und die Wände anstarrte. Es könnten Minuten sein. Stunden. Oder nur Sekunden. Nick war fort und ich kramte die ganze Zeit in meinem Kopf woher ich ihn kennen könnte. Nun gut, ich war mir inzwischen mehr als sicher, dass er die Person war die Jay und mich beobachtet hatte. Aber er hatte doch gesagt, dass er mich nicht brauchte. Warum beobachtete er mich also? Und war es dann wirklich nur Glück, dass er genau in dem Moment auftauchte in dem ich Hilfe brauchte? Das waren mir ein paar zu viele Zufälle...
Irgendwann hörte ich wie ein Schlüssel in der Tür gedreht wurde und hoffte dass man mir meine Enttäuschung nicht ansah, als nicht Nick den Raum betrat. Stattdessen kam ein junger Mann mit orangenen Haaren auf mich zu. Er war nicht viel größer als ich und hatte blaue Augen die durch seine Haare noch besser zur Geltung kamen.Mein erster Instinkt war Flucht! Ich stand auf und stürmte an ihm vorbei zur Tür. Die Schmerzen die dabei auftauchten, ignorierte ich.
Doch bevor ich die Tür auch nur berühren konnte, drückte der Fremde diese zu und ich war mit ihm gefangen.
„Tut das nicht weh?", fragte er und ein amüsiertes Lächeln zeigte sich dabei auf seinen Lippen. Wirklich gefährlich sah er nicht aus. Aber das musste ja nichts heißen...
Genau in diesem Moment krümmte ich mich vorne über und presste mir die Hand auf die Seite. Ja, es tat weh.
Er seufzte und half mir wieder zurück auf das Bett.
Ich presste die Zähne aufeinander und lehnte den Kopf an das kühle Holz hinter mir.
„Wer bist du?", wollte ich wissen, als er seine Tasche ablegte und darin herumwühlte.
„Oh ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Das tut mir leid. Wo bleiben denn meine Manieren?" stellte er die Gegenfrage und ich musste unwillkürlich grinsen. Von ihm drohte mir keine Gefahr. Er war ganz nett.
Jetzt machte er eine tiefe Verbeugung. „Mein Name ist Luke. Und ich bin hier so etwas wie der Oberarzt."
Ich lachte. „Wer ich bin muss ich ja wohl nicht sagen, oder?"
Er nickte. „Es ist mir eine Ehre, Prinzessin."
Winkend tat ich seine Worte ab. „Bitte. Jolin reicht."
„Okay. Also Jolin. Ich freue mich dich hier begrüßen zu dürfen, auch wenn ich der Meinung bin, dass Nick ein wenig früher eingreifen sollen hätte. Denn erstens hätte ich dann jetzt weniger Sorgen und zweitens würde es dir dann deutlich besser gehen.", meinte er und verdrehte die Augen.
Danach wies er mich an, mein Oberteil hinauf zu ziehen, damit er meine blauen Flecken besser untersuchen konnte.
Während er die schlimmsten Stellen mit einer Salbe eincreme, biss ich mir auf die Lippe um nicht laut zu fluchen. Es tat höllisch weh. Doch ich schaffte es, mich zusammen zu reißen.
„Nick ist gar nicht so übel. Man muss ihn nur kennenlernen.", sagte er während er mit einer gutriechenden Tinktur die blutige Wunde an meinem Kopf behandelte.
„Ich weiß nicht was ich von ihm halten soll.", gab ich ehrlich zu und ließ meine Fingerknöchel knacksen. Eine schreckliche Angewohnheit, die immer zum Vorschein trat, wenn ich unsicher oder verlegen war.
Luke stoppte mitten in der Bewegung und sah mich an. „Es mag sein, dass er ein wenig... kühl und distanziert wirkt, aber gib ihm Zeit. Er hat viel Schlimmes erlebt und nun ja. So etwas hinterlässt Spuren, wie du sicherlich weißt."
Ich barg das Gesicht in den Händen. „Ja... Es tut mir leid. Ich bin momentan einfach nur ein bisschen durch den Wind."
Luke ging vor mir in die Hocke und nahm meine Hände. „Das ist verständlich. Und wir werden dir die Zeit geben die du brauchst. Du kannst hier sein wer du wirklich bist. Du musst keine Prinzessin sein, wenn du nicht willst. Jolin reicht, okay?"
Bei seinen Worten hätte ich fast angefangen zu weinen. Es war so unendlich lange her, dass jemand so etwas zu mir gesagt hatte.
Und jetzt war ich hier: Bei Menschen die ich nicht einmal annähernd kannte und sie sagten mir ich müsse mich nicht verstellen und dürfe die Person sein, die ich wirklich bin.
Ich musste tot sein. Anders konnte ich mir das hier alles nicht erklären.
„Bist du real?", sprach ich dann sofort meine Gedanken laut aus und bereute es im nächsten Moment wieder.
Das wirkt sehr schlau, wirklich Jolin!
Luke schmunzelte. „Ja bin ich. Ich kann dich aber gerne kneifen, wenn du mir nicht glaubst."
Ergeben hielt ich ächzend die Hände in die Höhe. „Schon gut. Ich verzichte."
In diesem Moment klopfte es an der Tür.
Erschreckt sah ich dorthin, während Luke nur weiter meine Wunden reinigte.
„Das ist nur Nick. Er will wissen ob es dir gut genug geht, damit er dir das Dorf zeigen kann.", erklärte er ganz selbstverständlich.
„Das Dorf?", echote ich.
Er nickte und beendete seine Arbeit.
„Hat mich gefreut dich kennenzulernen. Aber wir werden uns bestimmt noch ein paar Mal über den Weg laufen.", verabschiedete er sich, als er zur Tür ging.
„Ich hoffe es doch.", erwiderte ich und lächelte ihn an.
Dann öffnete er die Tür und keine Sekunde später stand Nick an seiner Stelle.
„Wie geht es dir?", wollte er wissen. Sein Blick ruhte entspannt auf mir und ich musste mich zusammenreißen um nicht die ganze Zeit in seine unverschämt grünen Augen zu sehen.
„Gut genug, damit du mir das „Dorf" zeigen kannst, auf jeden Fall.", antwortete ich und stand auf.
Er lachte. „Luke."
Ich nickte. „Genau."
„Na dann.", sagte er und deutete mir, an ihm vorbei zu gehen. Langsam, ohne ihn aus den Augen zu lassen, ging ich an ihm vorbei. Draußen war es bereits dunkel und doch war überall Licht.
In den Bäumen hingen Kerzen und an vielen Stellen standen Fackeln. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Es war wunderschön. Selbst an der Hängebrücke vor mir, die in den nächsten Baum führte, hingen Kerzen in die Tiefe.
Trotzdem wackelte ich ein wenig, als ich vor dem Baumhaus stand. Doch bevor ich umkippen konnte, hielt eine starke Hand mich am Ellenbogen fest.
„Gut genug, ja?", fragte er amüsiert und zog eine Augenbraue in die Höhe.
„Es geht mir gut.", wiederholte ich und sah ihn eindringlich an.
Er zog die zweite Augenbraue in die Stirn und musterte mich.
„Wo geht's denn hier überhaupt runter?", keifte ich, damit ich einen Grund hatte um ihn nicht mehr ansehen zu müssen.
Nick lachte leise und zeigte mit dem Finger auf den Boden. Da war eine kleine Luke im Boden und daran war eine Strickleiter befestigt. Der Boden war mindestens acht Meter von mir entfernt und allein bei dem kurzen Blick wurde mir schlecht.
Ich blickte ihn an und schluckte. Konnte er wissen, dass ich Höhenangst hatte? In seinen Augen lag ein komisches Glitzern. Aber ich konnte es nicht einschätzen.
„Da... Da runter?", räusperte ich mich und hoffte, dass meine Stimme nicht ganz so flach klang, wie sie sich anfühlte.
„Jap. Aber du musst nicht, wenn du nicht willst. Du kannst natürlich auch hier oben in deinem sicheren Baumhaus bleiben und warten, bis der Boden nicht mehr ganz so weit entfernt ist.", provozierte er mich und lächelte.
Ich funkelte ihn böse an. „Nein danke.", zischte ich und machte mich an den Abstieg.
Meine Finger zitterten, als sie den Strick umklammerten und die Knöchel traten weiß hervor.
>Okay, das ist keine große Sache, Jo. Das schaffst du locker.<, sagte ich mir selber in Gedanken, während ich meinen Fuß auf die erste Stufe stellte und atmete tief durch.
>Ich bring diesen Mistkerl um.<, dachte ich und klammerte mich noch enger an die Seile, als ein wenig Wind aufkam.
„Hey wird das heute nochmal was?", erklang unter mir plötzlich eine Stimme.
Langsam warf ich einen Blick hinunter und sah Nick dort stehen. Wie war er so schnell...?
Da ich ihm nicht die Genugtuung geben wollte, mich völlig verängstig zu sehen, schloss ich kurz die Augen, ehe ich all meinen Mut zusammen nahm und die einzelnen Sprossen hinunterkletterte.
„Wie bist du denn runtergekommen?", fragte ich, als meine Knie sich nicht mehr wie Wackelpudding anfühlten.
Er grinste „Ich habe die Treppe genommen!"
Das war der Moment in dem ich ihm am liebsten umgebracht hätte.
„Du hast die Treppe genommen! Klar.", meinte ich ironisch und schüttelte verärgert den Kopf.
„Ja, die in dem Baum gegenüber. Der ist von innen hohl. Das geht ganz ohne Probleme.", erklärte er und zuckte angeblich ratlos mit den Schultern.
Ich atmete tief ein und aus um ihm nicht den Hals umzudrehen.
„Gut, danke. Ich merks mir fürs nächste Mal.", entgegnete ich und zog die Augen ein wenig zusammen.
„Wie kommst du darauf, dass es ein nächstes Mal geben wird?", fragte er und sah mich wieder mit diesem „Du-hast-doch-keine-Ahnung"-Blick an.
„Wenn ich mich recht entsinne, warst du derjenige, der mich hierhergebracht hat und etwas von mir möchte.", erinnerte ich mich und sah ihn mit unschuldigen Augen an.
Er knurrte etwas Unverständliches und schob mich auf eine Hütte zu.
Und das war das erste Mal, dass Nick absolut sprachlos war...

Das Herz der KriegerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt