⠀ dear emptiness, i don't understand

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⠀ ⠀ ⠀Ich verstehe die Zeit nicht.

⠀ ⠀ ⠀Ich verstehe sie an sich. Ich weiß vieles über sie, vor allem physikalisch, aber wiederum tue ich es auch nicht. Zeit ist relativ, sie kann sich für Menschen verschieden anfühlen und je nach Situation kann dieses Gefühl der Zeit variieren.

⠀ ⠀ ⠀Meine Zeit vergeht so, dass ich sie nicht verstehe.

⠀ ⠀ ⠀Ich kann es nicht beschreiben und werde daran scheitern, es zu versuchen; meine Gedanken sind nur für mich verständlich und ein Fluch liegt auf mir, dass ich immer einsam in meinem Kopf sein werde. Ich versuche es aber.

⠀ ⠀ ⠀Die Zeit kommt schnell auf mich zu, sie vergeht und vergeht. Ich blinzel und bereits ist ein neuer Tag angebrochen und erneut blinzel ich und es steht eine 23 nach der 20. Aber ist sie einmal an mir vorbei, dann ist es, als wäre alles langsam. Etwas, was vor einem Tag war, fühlt sich so weit von mir entfernt an, dass ich davon überzeugt bin, dass es bereits mehrere Wochen her ist.

⠀ ⠀ ⠀Und mit diesem Gefühl, dass alles so lange her war, beginne ich auch zu vergessen. Ich kann mich an so wenige Dinge erinnern und wenn doch, dann weiß ich nie genau wann es war oder wie genau, sondern es ist eher wie eine Überschrift.

⠀ ⠀ ⠀Ich weiß was ich getan habe, aber nicht wie es war, geschweige denn, sehe ich es bildlich. Als würde mein Gehirn allem einen Namen geben und es draufkleben, wie meine Mutter es immer mit ihrem Beschriftungsgerät gemacht hat. Sie hatte eine Phase damals, in der sie immer wieder Dinge beschrieben hat. Ich kann mich auch nicht wirklich daran erinnern, sondern weiß einfach, dass es so war und noch immer finde ich die kleinen Aufkleber mit Namen wieder (zum Beispiel auf meinen Stiften aus der Grundschule). Und ich mag den Gedanken, dass mein Gehirn es so übernommen hat.

⠀ ⠀ ⠀Ich bezweifle, dass es nur mir so geht. Es wird vielen Menschen so gehen, aber ich kann immer nur für mich sprechen.

⠀ ⠀ ⠀Ich würde nicht behaupten, dass mein Leben dadurch surreal ist. Natürlich habe ich solche Momente, in denen nichts wirklich ist und ich nicht verstehe, wie ich dorthin gelangen bin, wo ich bin, aber es ist nicht durchgehend so. Mein Leben ist eher... ein Programmierfehler.

⠀ ⠀ ⠀Dies will ich etwas genauer erklären.

⠀ ⠀ ⠀Die Simulationstheorie müsste einigen ein Begriff sein. Wir Menschen leben in einer Simulation. Für mich hatte es diese Idee, diese Theorie, schon immer gegeben, aber ich weiß nicht mehr wo oder wann genau ich damit konfrontiert wurde und ich sie irgendwo in meinem Kopf abgespeichert habe.

⠀ ⠀ ⠀Ich habe sie nie als komplett abwegig oder total glaubwürdig angesehen. Für mich hat diese Theorie einfach existiert. Wie Außerirdische. Ich habe auch nie wirklich an ihre Existenz geglaubt oder an ihre Inexistenz. Es gab für mich nur die Menschen, die darüber nachdachten oder danach suchten.

⠀ ⠀ ⠀Ich war nie wirklich ein Mensch, der an irgendetwas fest geglaubt hatte. Mir war es meistens egal, doch zurück zu meiner Erklärung.

⠀ ⠀ ⠀So wäre das Leben nur eine Simulation, aus welchem Grund auch immer und nehmen wir an, dass eine hochentwickelte Zivilisation einfach nur Langeweile hatte und diese Simulation einer Serie gleichkommt, dann sind manche Menschen mehr im Licht. Hauptcharaktere, jemand, der alles hat und dem es gut geht und dem spannende Dinge passieren.

⠀ ⠀ ⠀Ich bin nicht einer dieser Menschen. Mir passiert nichts besonderes, ich habe nicht alles und mir geht es auch nicht gut. Ich bin einer der Unglücklichen, die die Simulation realer und voller erscheinen lassen und irgendjemand ist daran gescheitert, mich oder meine Handlung zu programmieren.

⠀ ⠀ ⠀Ich habe Fehler in der Wahrnehmung. Ich habe wirklich, wirklich viele Fehler, die ein Hauptcharakter (dem viel Zeit gewidmet wurde, damit das Publikum ihn auch interessant findet) nicht haben würde.

⠀ ⠀ ⠀Und damit beklage ich mich nicht über meine Handlung. Ja, sie ist langweilig und gemein, aber es gibt Menschen, denen es schlechter geht, also darf ich mich nicht beschweren. Es wäre unfair für die Menschen, die immer wieder in der hohen See ertrinken. Ich ertrinke nicht in der hohen See, sondern in einer kleinen Badewanne und ich ertrinke auch eigentlich nicht, sondern tauche kurz unter und komme dann wieder hoch. Vielleicht — nein — bestimmt bekomme ich Wasser in die Nase und es wird für ein paar Minuten brennen, aber es ist nicht tragisch.

⠀ ⠀ ⠀Ich bin einfach ein Programmierfehler, der niemals gefunden wurde und deswegen für immer weiter existieren wird. Ich bin da, manchmal nicht. Ich habe Risse in meinem Kopf, Aussetzer und manchmal sind meine Gefühle einfach verschwunden und kommen dann einfach wieder. Manchmal habe ich andere Charakterzüge oder ich bin einfach weg.

⠀ ⠀ ⠀Aber warum erzähle ich all das? Es hat keinen wirklichen Inhalt und ich springe von verschiedenen Themen immer weiter. Ich weiß es tatsächlich nicht. Vielleicht ist dies der Versuch eine Biografie anzufangen, aber ich kann mich nicht wirklich an mein Leben erinnern. Es wären also entweder leere Seiten; Geschichten aus den Augen anderer Menschen oder einfach nur ein Haufen Lügen, die ich erschaffen habe, damit jeder glaubt, dass mein Leben aufregend ist.

⠀ ⠀ ⠀Ich spiele oft mit dem Gedanken, mir ein neues Leben zu erschaffen. Eine Art Lüge, aber nur für mich.

⠀ ⠀ ⠀Ich würde mir eine gute und aufregende Kindheit erfinden, mit einer Mutter, der es immer gut ging und die nicht durch so viel durch musste, um endlich an ihrem Glücklich bis ans Lebensende zukommen, sondern eine Abkürzung nehmen konnte und einen Vater, der nicht dieser grausame Mann ist, von dem mir die ganze Welt erzählt und der niemals vollkommen für mich da war, sondern die Lüge ist, die er mich sehen lässt.

⠀ ⠀ ⠀Mit Geschwister von denselben Eltern, die in meinem Haus wohnen und mit denen ich schöne Dinge erlebe. Großeltern, die nicht so viel falsch gemacht haben oder mich nur als Gast ansehen, sondern die mich lieben und zu denen ich immer gehen kann, wenn etwas ist, ohne mich fremd zu fühlen.

⠀ ⠀ ⠀Mit zwei Familien, die mich lieben und nicht drei zerstörte, die sich alle untereinander hassen und in welchen ich nicht wirklich dazu gehöre, sondern immer nur als Gast angesehen werde. Eine Kindheit, in der ich nicht Hunderte von Dingen ausprobiert habe, sondern in der ich etwas gefunden habe, in dem ich gut war. Mit Veranstaltungen, die meine Familie besucht. Freunde, die ich nicht nur als Puppen ansehe, sondern als Menschen, die mir etwas bedeuten und die mir auch etwas bedeuten werden, wenn wir nicht mehr dazu gezwungen sind, Zeit miteinander zu verbringen.

⠀ ⠀ ⠀Ich weiß, dass es nicht so funktioniert. Ich weiß, dass man sich nicht sein Leben umgestalten und dann nur in dieser Fantasiewelt leben kann, die alles nur noch kaputter machen würde, aber wenn niemand meinen Programmierfehler bemerkt und repariert, dann muss ich es in die Hand nehmen.

⠀ ⠀ ⠀Lügen sind besser als dieses endlose Nichts, was ich als meine Vergangenheit sehe. Ich will nicht mehr diese leeren Seiten mit den Überschriften, sondern echte Erinnerungen.

⠀ ⠀ ⠀Ich klinge verrückt... Man versteht mich nicht, oder? Nein, wie sollte man auch? Aber ich habe damit gerechnet, ich sagte es bereits am Anfang.

⠀ ⠀ ⠀Nun merkt man, dass ich nicht gut im Schreiben bin. Nun, da ich einfach schreibe und nicht mehr bei jedem Satz nachdenke und nachdenke, überarbeite und überarbeite, bis nur noch Worte in meinem Kopf sind, die nicht zusammengehören. Nur so kann man sehen, wie eine Person schreibt. Schreibe mir deine Gedanken auf, ohne lange nachzudenken und dann sehe ich dein wahres Talent. Nicht dieses, das du dir aufbaust.

an alcoholics duality.     collection Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt