Prolog

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Der Regen prasselte unaufhörlich gegen die Fensterscheiben des hoch aufragenden Regierungsgebäudes. Drinnen herrschte eine eisige Stille, die nur von gedämpften Schritten auf dem Gang und dem Räuspern des Gastes durchbrochen wurde. Nikolai Reichenbach stand am Fenster und beobachtete die trüben Straßen der Stadt. Die blendenden Lichter, die durch den Regenschleier drangen, schienen sich in seinen müden Augen widerzuspiegeln.

Seit Jahren hatte er im Hintergrund gewirkt und mit geschickter Hand die Fäden gezogen. Sein Aufstieg in den Reihen der Regierung war vor allem darauf zurückzuführen, dass er niemals groß auffiel und versuchte, niemanden zu verärgern. Er kannte alle Seiten der Politik, die gefährliche Kunst der Manipulation, die Verlockung der Macht, aber auch die Bedeutung des Zusammenhalts und das Gefühl, als Gruppe etwas bewirken zu können.
Ein kurzer Blick auf das Gemälde an der Wand erinnerte ihn an die Gründe für seine skrupellosen Taten. Es zeigte das Bild einer zersplitterten Welt, in der er die Hoffnung hatte, sie wieder aufbauen zu können.
Doch genau dieser Traum schien sich gerade vor seinen Augen aufzulösen. Die Akte mit all den schmutzigen Informationen über ihn, sein Privatleben und seine Machenschaften lag immer noch auf dem Schreibtisch, genau dort, wo er sie nach dem Durchblättern hingelegt hatte. Er bemühte sich, seine Aufregung nicht erkennen zu lassen, aber seine Hände zitterten, als hätte er heute Morgen seine Medikamente vergessen. Die jahrelange Arbeit in dieser Welt hatte ihm jedoch gelehrt, dass man solche Schwächen niemandem zeigen durfte, vor allem nicht jemandem, der gerade versuchte, ihn zu erpressen.

Erneut räusperte sich der Mann hinter ihm. Nikolai konnte die grünen Augen förmlich in seinem Rücken spüren. Langsam drehte er sich um und setzte sich hinter den großen Schreibtisch, der ihm gerade jetzt ein Gefühl von Macht verlieh.
„Sie wollen sicher nichts trinken?", fragte Nikolai mit erstaunlich ruhiger Stimme seinen Gegenüber.
Dieser sah es nicht als nötig an, seine Stimme zu nutzen, um ihm zu signalisieren, dass er nichts trinken wollte. Eine minimale Kopfbewegung zu beiden Seiten war das Einzige, was er für nötig hielt. Nikolai unterdrückte einen inneren Aufschrei der Frustration. Er wusste, dass sein Gegenüber über ein Arsenal an Informationen verfügte, das ihn in den Abgrund stürzen könnte. Die Akte auf seinem Schreibtisch war wie eine tickende Zeitbombe, bereit, sein Leben zu zerstören und seine Machtposition zu untergraben. Mit nun leicht zitternden Händen griff Nikolai nach einem Glas Wasser und füllte es mit zittrigen Fingern. Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln und seine Gedanken zu ordnen. Das Rauschen des Regens verstärkte nur die bedrückende Atmosphäre in seinem Büro.
Sein Gegenüber, dessen Augen immer noch auf ihn gerichtet waren, durchbohrte ihn förmlich mit einem Blick voller Selbstgefälligkeit und triumphaler Genugtuung. Nikolai spürte den Druck auf seinen Schultern, den Schatten der Erpressung, der langsam auf ihn niederdrückte.

Als er das Glas Wasser langsam abstellte, richtete Nikolai seinen Blick fest auf seinen Erpresser.
"Sind Sie stolz auf sich?", fragte Nikolai mit zittriger Stimme, die den Versuch der Selbstbeherrschung verriet. "Ist das Ihr Spiel? Mich zu erpressen und meine Karriere zu zerstören?"
Der Gast schwieg weiterhin, doch sein Blick sprach Bände. Die eisige Stille drückte auf Nikolai wie ein unsichtbares Gewicht. Die Machtlosigkeit, die ihn umgab, schien ihn zu erdrücken. Nikolai versuchte verzweifelt, einen klaren Gedanken zu fassen. Er wusste, dass er sich nicht einschüchtern lassen durfte. Er musste einen Weg finden, um diese Erpressung abzuwehren und seine Position zu verteidigen. Jedoch erhob sich der Gast langsam. „Mach deine Entscheidung, Nikolai. Denke gut darüber nach. Ich werde warten. Aber sei gewarnt, die Konsequenzen werden unerbittlich sein."
Ohne ein weiteres Wort drehte sich der Gast um und verließ den Raum. Die Tür schloss sich so leise, dass Nikolai es kaum bemerkte. Er blieb allein zurück, mit den düsteren Gedanken, die wie Schatten durch seinen Geist huschten.

Die Worte des Gastes schwirrten noch immer in seinem Kopf, und eine unheimliche Stille erfüllte den Raum. Nikolai spürte die Schwere der Entscheidung, die vor ihm lag. Sein Herz schlug schneller, als er die Augen wieder auf die Akte auf seinem Schreibtisch richtete. Mit größter Mühe stand Nikolai auf und ging erneut zu seinem großen Fenster. Der Regen hatte nicht aufgehört, das Bild der Stadt in melancholische Grautöne zu tauchen. Das Gefühl der Machtlosigkeit wurde überwältigend, und ein bitterer Geschmack der Niederlage legte sich auf seine Zunge.
Sein Blick fiel auf den Schreibtisch, auf dem die Akte mit all den schmutzigen Informationen über ihn lag. Sie war wie ein drohendes Monster, das darauf wartete, sein Leben zu zerstören. Er betrachtete das Bild, das seine Familie zeigte, und erinnerte sich an die Menschen, die er liebte, an die Menschen, für die er diesen Weg eingeschlagen hatte.

Die Verzweiflung in Nikolais Brust wurde immer erstickender. Das Fenster schien ihn zu rufen, die Leere dahinter versprach ihm eine Flucht vor den drückenden Schatten der Macht. Mit zitternden Händen setzte er langsam seinen Fuß auf die Fensterbank und spürte den kalten Wind, der ihm ins Gesicht schlug. Ein letzter, trauriger Blick auf das Gemälde an der Wand, das die zerbrochene Welt darstellte, erfüllte ihn mit einer unerträglichen Leere. Er hatte versucht, die Welt zu retten, aber stattdessen hatte er sich selbst verloren. Doch all dies war für ihn ab jetzt egal. Soll jemand anderes diese Welt retten, er war am Ende angelangt. Als diese Akte auf seinem Tisch landete, war ihm klar, dass auch die letzte Seite seines Lebens geschrieben war. Hier und heute. Aber er war endlich frei. Das machte ihn noch ein Mal glücklich. Möge sein Fall ein Zeugnis sein für die Verlorenen, die in den Schatten der Macht gefangen sind und nach einem Ausweg suchen, um ihre verlorene Menschlichkeit zurückzugewinnen.

Wenn die Fassade bröckelt Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt