Im Herzen der Dunkelheit

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Der Regen prasselte unablässig auf das Dach meines Wagens. Die Scheibenwischer arbeiteten im Takt und schufen einen schlierigen Vorhang aus Wassertröpfchen vor mir. Ich saß hinter dem Fahrer des Wagensund ließ meinen Blick gedankenverloren über die vorbeiziehende Landschaft schweifen. Die Einladung zu einem Treffen mit einflussreichen Persönlichkeiten kam überraschend und weckte sowohl Vorfreude als auch eine gewisse Unruhe in mir. Lisa hatte den Brief mit dem eichenbaumförmigen Siegel auf meinem Schreibtisch platziert. Er lag dort mindestens zwei Stunden, bevor ich mich entschloss, ihn zu öffnen. Die Nachricht, die sich darin verbarg, löste in mir ein beklemmendes Gefühl aus - ähnlich wie damals, als ich mein Zeugnis in der Schule in den Händen hielt. Es war eine Einladung zu einem Treffen, das keinen genauen Grund oder Inhalt angab. Lediglich Ort und Zeit waren vermerkt. Ein solches Treffen konnte ich nicht ablehnen, aber es ließ Raum für Spekulationen und Unsicherheit.

Der Wagen verlangsamte seine Fahrt, als wir das beeindruckende Anwesen erreichten. Die hohen Mauern und die majestätische Einfahrt zeugten von der Bedeutung dieses Ortes. Jeder Stein schien eine Geschichte zu erzählen, und ich konnte die Anspannung in der Luft förmlich spüren. Wir hielten vor dem imposanten Eingangstor, und mein Fahrer gab mir das Zeichen, auszusteigen. Als ich die großen steinernen Treppen emporstieg, wurde ich von einem Butler erwartet, der sich als Winston vorstellte. Sein vornehmes Auftreten und seine aufmerksamen Augen verrieten mir, dass er ein Mann von großer Erfahrung und Diskretion war. Er begrüßte mich höflich und erkundigte sich nach meiner Fahrt. "Willkommen auf dem Anwesen, Sir", sagte er mit einer wohlklingenden Stimme. "Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise." Ich nickte und bedankte mich für seine Gastfreundschaft. Winston führte mich durch die prächtigen Flure und Säle des Anwesens. Der Klang meiner Schritte wurde von den edlen Teppichen gedämpft, während das gedämpfte Licht der Kronleuchter eine warme Atmosphäre schuf. An den Wänden hingen Gemälde vergangener Schlachten und Porträts bedeutender Persönlichkeiten, die die Geschichte und den Stolz unseres Landes verkörperten. Schließlich erreichten wir eine massive Holztür, in die das Wappen unserer Partei eingeprägt war - der eindrucksvolle Eichenbaum, der Stärke und Stabilität symbolisierte. Winston öffnete die Tür, und ich trat in einen Raum ein, der mit erlesenem Geschmack eingerichtet war. Große Fenster ließen das Licht des abendlichen Himmels herein und gewährten einen beeindruckenden Blick auf die umliegende Landschaft. Die Atmosphäre im Raum war angespannt, als ich mich zwischen den Gästen des Treffens bewegte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie viele Hände ich heute schon geschüttelt hatte. Die Zahl wuchs gleichzeitig mit der Anzahl meiner Gläser. Ich spürte den dringenden Drang nach einer Zigarette. Doch als ich in meinem Sakko mein Etui raus holen wollte, merkte ich, dass ich dieses verdammte Ding im Auto hatte liegen gelassen. Doch meine Rettung nahte, denn auf einem Tisch nicht unweit von mir entfernt war eine Box mit Zigarren. "Gesponsert von einem Parteigenossen" stand auf einem kleinen Schild daneben. Sollte mir recht sein.

Doch auf den Weg dorthin merkte ich etwas, was bei mir sofort alle Alarmglocken schlagen ließ.  Mein Blick fiel nämlich auf zwei Männer, die sich in eine hitzige Diskussion vertieft hatten. Einer von ihnen war ein Vertreter der Wirtschaft, gekleidet in einem maßgeschneiderten Anzug, während der andere ein hochrangiger Politiker war, dessen Gesicht von jahrelanger politischer Erfahrung gezeichnet war. Stolz trug er auch noch ein Zeichen der Regierung an seiner Brust, also jemand der tatsächlich Mitglied der Kammer sein muss.  Ich näherte mich den beiden Männern und konnte bereits die aufgeladene Stimmung spüren. Dabei wollte ich nur an ihnen vorbei, um an meine Gratisladung Nikotin zu kommen. Die beiden Streithähne waren mir nur leider direkt im Weg.

"Es ist unverantwortlich und kurzsichtig, die wirtschaftlichen Interessen über alles zu stellen", argumentierte der Politiker mit energischer Stimme. "Wir müssen auch die  Auswirkungen unserer Entscheidungen berücksichtigen und sicherstellen, dass alle Menschen von unserem Fortschritt profitieren." Der Vertreter der Wirtschaft schüttelte den Kopf und entgegnete: "Wir können nicht erwarten, dass die Wirtschaft floriert, wenn wir sie mit immer neuen Regulierungen und Steuern belasten. Wir brauchen eine effiziente Umgebung, um unseren Wohlstand zu erhalten."Die Diskussion schien sich in einer Sackgasse zu befinden, als meine Anwesenheit bemerkt wurde. Die beiden Männer wandten sich mir zu, und ich spürte die Blicke auf mir ruhen. Es gab selten Momente in denen ich mir wünschte ich würde nicht gesehen werden. Das war so einer. Nachdem ich den halben Abend damit verbracht hatte nirgendwo anzuecken, musste ich genau bei so einem Thema eine Entscheidung fällen, falls ich nicht schnell genug verschwinde. Doch bevor ich überhaupt einen weiteren Schritt machen konnte, öffnete die Regierungskröte ihren Mund und sprach. "Augustus, du bist genau derjenige, den wir jetzt brauchen", dazu deutete er auch noch auf mich.

Ich spürte, wie sich meine Augenbrauen leicht zusammenzogen, als der Politiker mich direkt ansprach. War ich wirklich derjenige, der dieses Dilemma lösen konnte? War ich bereit, die Verantwortung zu übernehmen und mich in den Strudel dieser hitzigen Debatte hineinziehen zu lassen? Der Vertreter der Wirtschaft schien ebenfalls überrascht von dieser Aussage und warf einen skeptischen Blick auf mich. Sein Gesichtsausdruck verriet deutlich seine Zweifel. Ich nahm einen Moment, um meine Gedanken zu sammeln, bevor ich antwortete. Ich wollte sicherstellen, dass meine Worte sorgfältig gewählt waren und dass ich den richtigen Ton traf. "Es ist richtig, dass wir die wirtschaftlichen Interessen nicht außer Acht lassen dürfen", begann ich bedacht. "Sie sind ein wichtiger Motor für unseren Fortschritt und unseren Wohlstand. Allerdings dürfen wir dabei nicht vergessen, dass unser Handeln auch Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Umwelt hat." Ich richtete meinen Blick abwechselnd auf den Politiker und den Vertreter der Wirtschaft, während ich weiter sprach. "Es ist meine Überzeugung, dass wir eine nachhaltige Balance finden müssen. Eine Balance, die sowohl die wirtschaftlichen Chancen nutzt als auch soziale Verantwortung übernimmt. Wir müssen gemeinsam nach Lösungen suchen, die langfristig den Interessen beider Seiten gerecht werden." Der Vertreter der Wirtschaft nickte langsam, während der Politiker seine Miene zu mildern schien. Es schien, als hätten meine Worte eine Brücke geschlagen und eine gewisse Bereitschaft zur Zusammenarbeit geweckt. "Ich schlage vor, dass wir uns zusammensetzen und unsere Standpunkte weiter diskutieren", schlug ich vor. "Nur durch einen offenen Dialog und gegenseitiges Verständnis können wir eine gemeinsame Basis finden und Lösungen erarbeiten, die für alle Beteiligten akzeptabel sind."

Die Situation wirkte entschärft. Ich spürte eine gewisse Erleichterung in mir, dass meine Worte Gehör fanden und dass ich vielleicht einen Beitrag zur Lösung dieses Konflikts leisten konnte. Die beiden Männer schienen nachzudenken und ich spürte, dass sie die Ernsthaftigkeit meiner Worte erkannten. Ein Hauch von Hoffnung durchzog den Raum, als sie sich einander zuwandten und begannen, ihre Standpunkte auf eine etwas gemäßigtere Art und Weise auszutauschen. Ich zog mich langsam zurück und ließ die beiden in ihre Diskussion vertieft. Es war nicht meine Aufgabe. Und während ich endlich meine Zigarre zwischen den Fingern hielt, wurde mir klar, dass meine Worte zwar eine Brücke zu schlagen schienen, aber meine eigentlichen Absichten im Schatten blieben, verborgen vor den Augen derjenigen, die in mir nur einen Ersatz für Nikolai sehen. Ich werde nicht wie er sein. Ich bin für größeres bestimmt.

Wenn die Fassade bröckelt Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt