Kapitel 6

181 4 0
                                    

Ich starrte lustlos aus dem großen Fenster des Klassenzimmers. Außen am Glas sammelten sich dicke Regentropfen an und klatschten, für mich lautlos, auf das rostige Fensterbrett. Die Stimme meines Lehrers schien weit weg zu sein. Stumpf, wie wenn man im Schwimmbad unter diesem Pilz steht, aus dem ein Wasserfall kommt. Es rauscht und man hört kaum, was dahinter abläuft.

Bis mich jemand an der Schulter berührte und ich aus meinem Tagtraum gerissen wurde.

"Emilie." Mein Lehrer lachte kurz, etwas besorgt, und auch verwirrt von meinem Verhalten. Ich hob den Kopf um zu ihm hochzusehen. "Die Stunde ist rum.", fügte Herr Sandner mit einem Stirnrunzeln hinzu.

"Oh.", machte ich und stand schnell auf um meine Sachen in die Tasche zu packen. Kurzerhand schulterte ich den Beutel, lächelte matt und ging auf die Tür zu. Tatsächlich war kein Schüler mehr hier. Das hatte ich wohl davon, wenn ich mir am Anfang des Schuljahres einen Fensterplatz ausgesucht hatte.

"Nicht begeistert, dass du wieder einen Schulblock hast, oder?", fragte Herr Sandner plötzlich, der an seinem Pult stand und gerade seinen Ordner schloss. Ich drehte mich zu ihm um.

"Doch, schon. Ich brauche die Abwechslung.", antwortete ich ihm und wandte mich erneut zum Gehen.

"Komm her.", sagte Herr Sandner in einem strengen, aber fürsorglichen Ton. Ich sträubte mich, zu ihm zu gehen, tat es aber natürlich trotzdem. Die Klassenzimmertür fiel ins Schloss.

Mit fragenden Augen stand ich vor ihm.

"Du solltest ein bisschen mehr schlafen.", stellte Herr Sandner fest, nachdem er mich gemustert hatte.

"Woran machen Sie das fest?"

"An deinen Augen.", kam sofort zurück.

"Ich sehe immer so aus.", meinte ich mit einem Schulterzucken.

Herr Sandner lächelte. "Ich unterrichte dich schon seit über zwei Jahren und ich weiß, dass du unter normalen Umständen aufgeweckter wirkst."

Ich sah ihm ins Gesicht. Was erlaubte er sich eigentlich? Zum Glück mochte ich ihn.

"November eben.", antwortete ich. Dann merkte ich, dass meine kurzen Antworten tatsächlich etwas auffällig waren. Deswegen sprach ich weiter und setzte ein kleines, unschuldiges Lächeln auf.

"Bestimmt fehlt mir Vitamin D."

Oh Gott, das klang auch nicht viel besser. Herr Sandner sah mich amüsiert an. "Verstehe." Sein Schmunzeln störte mich. Ob er gerade genau so zweideutig dachte wie ich? In dem Fall wäre meine Bemerkung ziemlich unpassend gewesen.

Ich spielte leicht nervös am Träger meiner Tasche.

"Also schön. Du darfst gehen. Aber du solltest dringend Vitamin D zu dir nehmen.", sagte mein Lehrer schließlich und wandte sich von mir ab.

"Ja, mach ich.", sagte ich in einem aufgesetzt fröhlichen Ton und verschwand aus dem Klassenzimmer, bevor ihm einfallen würde, dass er noch Vitamin D bei sich trug.

Der restliche Schultag verlief vorfallslos. Als um halb zwei alle Stunden rum waren, regnete es ziemlich stark. Die meisten Schüler rannten zum Bus, oder zu ihren Autos, oder teilten sich einen Regenschirm, während ich stattdessen die Zeit des Wartens nutzte um in die Schulbibliothek zu gehen.

Sie war leer. Das war sogar noch besser.

Ich sank mit meinem Buch in einen der Sitzsäcke und lauschte dem Starkregen draußen, ohne dabei wirklich zu lesen. Irgendwann schien es mir, als würde ich langsam abdriften und den Schlaf von gestern Nacht nachholen.

Ich wurde von einem leisen, rauen Lachen wach. Meine Augen öffneten sich schwer, doch ich riss sie auf, als ich Herr Sandner zwischen den Bücherregalen vor mir entdeckte.

Er grinste zu mir rüber. Bestimmt hatte sein Lachen mich aufgeweckt. Als er sah, dass ich ihn gesehen hatte, kam er mit zwei Büchern in der Hand auf mich zu.

"Das hätte ich dir natürlich auch empfehlen können. Einen Mittagsschlaf in der Schulbibliothek. Wieso bist du nicht einfach nach Hause?" Seine Stimme triefte vor Spott. Er amüsierte sich mal wieder prächtig - über mein Leiden. Noch so ein Sadist. Die schien ich magnetisch anzuziehen.

"Ich hatte nicht geplant einzuschlafen.", antwortete ich ehrlich und fasste mir unauffällig ans Kinn um mögliche Sabberspuren zu entfernen. Zum Glück spürte ich nichts. Ob ich einen Kissenabdruck auf der Wange hatte?

"Achso. Verstehe." Herr Sandner lehnte sich an einen der leeren Tische.

"Verfolgen Sie mich eigentlich?", fragte ich dann kühn.

"Natürlich. Ich stelle jeder meiner Schülerinnen nach. Manchmal folge ich ihnen sogar bis ins Schlafzimmer.", sagte er sarkastisch und rollte die Augen.

"Nein, Emilie, natürlich nicht. Ich wollte mir zwei Bücher für den Unterricht suchen." Seine Hand fuchtelte kurz mit den zwei Büchern rum.

"Welche Bücher sind es geworden?"

"Wir werden George Orwell behandeln. Animal Farm und 1984."

Ich verdrehte die Augen. "Sie erfüllen ein Klischee, Herr Sandner.", erwiderte ich, wie üblich, ohne nachzudenken.

"Tue ich das?", fragte er und grinste. "Selbst wenn, ändert das nichts an der Tatsache, dass du da durch musst. Es muss soo schlimm sein mich als Lehrer zu haben."

Ich musste lachen. "Ja, ja."

Herr Sandner musterte mich. "Wieso bist du nicht nach Hause gegangen?" Er wiederholte seine Frage von vorhin.

Ich zuckte bloß mit den Schultern. "Es hat stark geregnet und ich dachte mir schon, dass die Bib leer ist. Deswegen habe ich mich mit meinem Buch hergesetzt.", antwortete ich ehrlich.

Außerdem wollte ich North solange es ging aus dem Weg gehen. Manchmal fühlte es sich so falsch an, ihn als Vaterfigur anzunehmen. Es fühlte sich an, als würde ich Dad ersetzen - der ja auch durchaus ersetzt werden müsste. Obwohl uns Dad vieles angetan hatte und sich nicht wirklich väterlich verhielt, fühlte ich mich manchmal schlecht, dass wir ihn durch den perfekten North ersetzt hatten.

Immer wenn ich in Norths Gesicht sah, vermisste ich Dad - zumindest vermisste ich die Vorstellung, dass mein Dad ein Dad sein hätte können und sich dafür entschieden hatte, es nicht zu sein.

Herr Sandner schien zu überlegen, ob er mir die Geschichte abkaufte.

"Hast du keinen Regenschirm?", fragte er dann recht banal.

"Nein.", sagte ich mit Nachdruck. "Sonst wäre ich ja nicht hier."

Mein Deutschlehrer seufzte. "Soll ich dir meinen leihen? Er ist allerdings im Auto."

Bevor ich mit dem Kopf schütteln konnte, stutzte ich. Wieso sollte ich verneinen? Wenn ich mich weiter so zierte, würde er noch denken, dass etwas mit mir nicht stimmte.

"Na gut. Danke." Ich lächelte ihn höflich an und stand dann halb schwankend aus dem Sitzsack auf. Herr Sandner wirkte zufrieden. "Mein Auto steht auf dem Lehrerparkplatz. Komm mit."

Liquor On Your Lips | Sugardaddy 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt