Kapitel 3: Die Geschichte des Sonnen- und Mondmädchens

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Als Grace und ich klein waren und wir bei unseren Großeltern zu Besuch waren, erzählte uns Grandpa die Geschichte vom Sonnen- und Mondmädchen. Als kleines Mädchen hatte ich sie geliebt und wollte sie immer wieder hören. Grace war jedes Mal dabei in den unmöglichsten Positionen eingeschlafen, doch ich hatte Grandpa mit meinen Kinderohren immer bis zum Schluss gelauscht.

Wie so oft ging mir diese Geschichte nun wieder durch den Kopf. Gerade dann, wenn alles um mich herum leise wurde, schloss ich die Augen und hörte seine tiefe Stimme. Manchmal bildete ich mir sogar ein, seine warme Hand auf meinem Kopf zu spüren.

Grandpa hatte damals nicht wissen können, wie tief mich diese Geschichte prägen und was für ein Nährboden sie für meine fiesen Gedanken sein würde.

Denn die Geschichte vom Sonnen- und Mondmädchen erzählte von Grace und mir.

Während die Ruhe um mich herum einkehrte und ich nur noch das holprige Ruckeln der unebenen Straße wahrnahm, schloss ich die Augen und blendete alles um mich herum aus. Der leere Bus, die karge Landschaft, Grace, die mit ihrer Stirn an der Fensterscheibe klebte und eingeschlafen war. Ich lauschte nur Grandpas Stimme, die eine Geschichte erzählte, die nun meine Realität war.

Es waren einmal zwei Mädchen. Sie waren unterschiedlich wie Tag und Nacht. Während das Sonnenmädchen jeden Tag die Erde mit Wärme und Licht zum Leben erweckte, wachte das Mondmädchen in der Nacht über den Schlaf der Menschen und tröstete sie, wenn sie in der Dunkelheit ihren Kummer loswurden. Jeden Morgen und jeden Abend, wenn das Sonnenmädchen und das Mondmädchen sich für einen kurzen Moment begegneten, lächelte das Mädchen mit dem sonnigen Lachen dem traurig dreinschauenden Mondmädchen zu. Sie gab ihr Wärme und umhüllte sie für einen kurzen Moment mit ihrem Licht, ehe sie ihren Platz am Himmelszelt verließ und alles dunkel wurde.

Und so vergingen die Jahre, ohne dass sich etwas änderte. Das Mondmädchen war erschöpft von den Albträumen und den stummen Tränen der Menschen, die all ihren Schmerz und ihre Ängste mit dem Mondmädchen teilten. Das Mondmädchen nahm ihnen die Last, die sie auf ihren schweren Herzen trugen, und schützte sie vor den Dämonen der Nacht, die in ihren Köpfen hausten. Jeden Abend trug sie mit ihnen Schlachten aus. Doch die Menschen dankten dem Mondmädchen nicht. Sie schenkten ihr niemals ein Lächeln oder strahlten ihr entgegen, so wie sie es tagsüber bei dem Sonnenmädchen machten.

Das Mondmädchen fragte sich, warum die Menschen sie nur mit traurigen Augen anstarrten und ihr von ihrem Leid erzählten, während sie dem Sonnenmädchen Freude und Glück entgegenbrachten.

»Warum bist du so traurig, Mondmädchen?«, fragte das Sonnenmädchen sie bei Tagesanbruch, während sie ihre warmen Strahlen nach ihr ausstreckte. Doch dieses Mal fühlten sich die Strahlen nicht angenehm warm an, stattdessen verbrannten sie dem Mondmädchen die bleiche Haut.

»Die Menschen mögen mich nicht. Sie haben Angst vor der Dunkelheit und krümmen sich in ihren Träumen. Und diejenigen, die keinen Schlaf finden, sitzen mit traurigen Gesichtern am Fenster und flehen mich an, ihren Schmerz zu nehmen. Und doch tragen sie tagsüber ein Lächeln auf dem Gesicht und strahlen dir entgegen, Sonnenmädchen.«

Das Sonnenmädchen lächelte, als könnte sie die Traurigkeit des Mondmädchens somit verschwinden lassen und für einen kurzen Augenblick schien es zu funktionieren. Das Mondmädchen schloss die Augen und ließ sich einhüllen von der Hitze des Sonnenmädchens, dass sie immer mehr in die Dunkelheit zurückdrängte. »Sei nicht traurig, Mondmädchen. Du hast immer noch mich. Ich werde dir den Schmerz der Menschen nehmen und dich wieder mit Licht erfüllen, wenn die Dunkelheit dich überrollt. Du bist mein Gegenstück. Ohne dich kann ich nicht leben. Du musst einfach nur an meiner Seite bleiben, dann wird alles gut. Ich werde auf dich aufpassen, so wie du auf die Menschen. Auf diesem Weg bist du niemals allein.«

Herzlich willkommen, meine fiesen GedankenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt