Kapitel 1: Die Unwahrscheinlichkeit zu leben

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Mein Professor fragte uns in einer Vorlesung einmal, wo das wirkliche Leben stattfand. Die Antwort darauf war simpel. Im Kopf. Denn dort gab es Gedanken, die uns stark machten und unheilvolle Stimmen, die uns zweifeln ließen. Es lag an jedem selbst, wie man sein Leben gestaltete.

War der Kopf frei und voller Tatendrang, so würde es derjenige wahrscheinlich weit bringen. Zumindest würde er seinen Träumen nachjagen und niemals aufgeben, egal wie oft er auch scheiterte. Doch wenn man schwach war und immer das glaubte, was die bösen Stimmen einem leise einredeten, so würde man jemand sein, der sich von seiner Angst leiten ließ und es niemals wagte, ein Risiko einzugehen.

Diese Art Mensch fürchtete sich davor, überhaupt einen Traum zu haben, denn sie sahen ihn von Beginn an in Tausend einzelne Teile zerspringen. Sie sahen das Ende, bevor sie überhaupt begonnen hatten. Diese Menschen waren keine Träumer, sie dachten rational und wurden geleitet von ihren Selbstzweifeln, die nicht zuließen, dass sie an sich selbst glaubten. Das waren die Menschen, die immer im Hintergrund sein würden. Statisten, die niemand bemerkte.

Ich gehörte zu diesen Menschen.

Mein größter Feind war ich selbst. Das Schlimmste daran war, dass ich niemals vor diesen Stimmen in meinen Kopf weglaufen konnte. Deshalb versuchte ich es erst gar nicht.

Ich würde mich niemals selbst bezwingen können.

Ich würde niemals frei sein können.

Mein Professor hatte recht gehabt, als er sagte, das Leben fände im Kopf statt. Denn ich steckte mittendrin im Leben. Ich aß zwei Mal am Tag, ich ging in die Universität und manchmal, da schaffte ich es auch, die fiesen Gedanken zu bezwingen und zu schlafen. Und doch war ich gefangen in meinem Kopf, nicht fähig, auch nur einen Schritt ins Leben zu treten. In Richtung Licht.

Oscar Wilde sagte einmal: »Das Leben ist nicht kompliziert. Wir sind es. Das Leben ist einfach, und das Einfache ist stets das Richtige.«

Jedes Mal, wenn ich das Zitat las, dachte ich, dass Oscar Wilde es geschafft haben musste, seine fiesen Gedanken zu bezwingen. Vielleicht war er einer dieser Menschen gewesen, der in jedem Schlechten etwas Gutes sahen. Wenn er dachte, das Leben sei nicht kompliziert, dann musste er mit sich selbst sehr zufrieden gewesen sein. Vielleicht hatte es auch bei ihm ein Leben lang gedauert, aber mir gefiel immer der Gedanke, er könnte mit sich selbst im Reinen gewesen sein. Auch wenn niemand in ihn hineinschauen konnte, stellte ich mir vor, dass er die Dämonen in seinem Kopf überwunden haben musste, um sagen zu können, das Leben sei einfach.

Denn das war es nicht.

Warum? Weil wir Menschen unser Leben bestimmten. Das Leben war ein Konstrukt, das wir erschufen. Wir füllten es mit unseren Stimmen, mit unseren Erfahrungen und mit unserem Schaffen. Liebe, Trauer, Schmerz, Glück – all diese Dinge definierten das Leben. Wir gestalteten es.

Doch während wir uns tagtäglich durchs Leben schleiften und ein Hindernis nach dem anderen bewältigten, immer mit der leisen Angst zu scheitern, vergaßen wir etwas ganz Entscheidendes. Wir lebten.

Die Wahrscheinlichkeit überhaupt geboren zu werden, lag bei eins zu vierhundert Trilliarden. Ich war nie besonders gut in Mathe gewesen, deshalb wusste ich nicht einmal, wie viele Nullen eine Trilliarde besaß. Ich hatte gegoogelt. Es waren einundzwanzig Nullen. Sich so eine Zahl vorzustellen, kam mir unwirklich vor.  Es war wahrscheinlicher, sechsmal nacheinander im Lotto zu gewinnen, als als Mensch geboren zu werden und nicht als Ameise oder Fliege.

Wenn man es aus dieser Perspektive betrachtete, sollte ich froh sein, dass mein Gehirn mein Leben bestimmte und mir Möglichkeiten offenbarte, die ich nicht bekommen hätte, wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, als Mensch geboren zu werden. Deshalb versuchte ich mir diese Tatsache jeden Tag vor Augen zu führen.

Und trotzdem wachte ich jeden Morgen auf und hörte die Stimmen in meinem Kopf, die mir sagten, ich wäre nicht genug und ich würde nie so sein wie sie. Das würde ich auch nicht. Die Stimmen hatten recht. Dennoch stand ich jeden Morgen auf, immer mit dem Funken Hoffnung, dass es heute anders werden würde. Obwohl ich wusste, dass es nicht so sein würde.

Wenn ich ehrlich war, dann war ich müde, so unfassbar müde vom Leben. Doch das sagte ich niemanden. Besonders nicht der Person, die mir am nächsten stand. Wenn sie wüsste, wie ich mich tief im Inneren fühlte, würde sie alles daransetzen, es besser zu machen. Aber das konnte sie nicht.

Denn Grace war alles, was ich nicht war.

So war es schon immer gewesen. Wir waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Sie war die Sonne und ich war der Mond. Vielleicht lag es daran, dass sie, als wir uns die Gebärmutter unserer Mom teilen mussten, immer näher an der Bauchdecke lag, sodass die Sonne sie stets angelächelt hatte. Zumindest stellte ich es mir so vor.

Meine Gedanken waren schon immer ein wenig seltsam. Das glaubte meine Zwillingsschwester übrigens auch, aber sie liebte mich für meine Verschrobenheit. Sie war der einzige Mensch, bei dem ich mich ein bisschen fallen lassen konnte. Wenn sie die Arme schützend über mich ausbreitete, fühlte ich mich sicher. Ihr stand ich am nächsten von all den Menschen, die ich an mich heranließ. Und gleichzeitig war sie so weit von mir entfernt, dass ich sie nicht erreichen konnte.

Denn sie war einer der Menschen, die das Leben liebte und das Leben liebte sie. Die fiesen Gedanken in ihren Kopf zermalmte sie zu Staub, während sie jeden Tag dafür kämpfte, ihren Traum ein Stück näher zu kommen. Grace war wie die mutige Hauptdarstellerin in einem Film, die stets ein Lächeln auf den Lippen trug, auch wenn sie zurückstecken musste.

Und ich? Ich war jemand, der kurz durchs Bild lief, aber dem niemand Beachtung schenkte. Das war okay für mich. Denn für einen kurzen Moment hatte ich die Chance, von demselben Licht angestrahlt zu werden wie meine Schwester. Es wärmte mich genug, dass ich es durch den Tag schaffte.

Und so lebte ich mein Leben. Mein Kopf leitete mich und ging jeglichen Risiken aus dem Weg. Mit den Jahren wurde ich leiser, bis ich irgendwann fast verstummte.

Doch dieser Sommer sollte nur mir und meiner Schwester gehören. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich mich dazu entschlossen, den Stimmen in meinem Kopf nicht nachzugeben. Ich wollte mich nur einmal frei fühlen. Und das konnte ich nur, wenn meine Schwester an meiner Seite war. Denn sie war meine Sonne und mein Licht.

Ich war auf alles vorbereitet gewesen.

Nur nicht auf Hudson Bale, der wie ein Orkan plötzlich wieder in mein Leben trat und alles daransetzte, meine Mauern Stück für Stück niederzureißen. Obwohl er hätte wissen müssen, dass ich nicht bereit dazu sein würde, mich ausgerechnet ihm gegenüber zu öffnen.

Herzlich willkommen, meine fiesen GedankenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt