Der Standard

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9,5 Stunden habe ich allein diese Woche mit Hausaufgaben verbracht. 30 Stunden sitze ich jede Woche in der Schule. 39,5 Stunden. 1,5 Stunden Nachhilfe. 41 Stunden. Das ist ein Vollzeitjob. Ich hätte gern mehr Zeit für mein Hobby. Vielleicht für Sport. Für Freundschaften, Familie. Für einen Job, um das Studium zu finanzieren. Aber die übrige Zeit fließt ins Lernen für das Abitur.
Immer wieder hören wir, dass wir „Prioritäten setzen müssen". Sollte Glücklichsein nicht die Priorität sein? Wie bleibt uns neben der Schule Zeit, um uns selbst zu finden, um glücklich zu werden?
Gerade in der Abiturvorbereitungszeit werden übermäßig viele Hausaufgaben aufgegeben, in Grundkursen nicht weniger als in Leistungskursen. Nicht nur für die Handvoll Leute, die es als Abiturfach haben. Klar, der Stoff muss durchkommen. Es muss eine Grundlage zur Benotung geben, immerhin bleiben nur noch 2 Monate. Das macht es nicht weniger stressig, nicht weniger kräfteraubend.
Das ist der Standard. Gymnasium. G8. Wir, mit rund 10 Jahren, wussten doch, worauf wir uns einlassen!
Bereits die Empfehlung der weiterführenden Schule in der 4. Klasse ebnet unseren Weg. Mit 10 wird durch die Empfehlung der Grundschullehrer*innen für uns entschieden, ob wir Abitur machen, ob wir Akademiker*innen werden, ob wir Chancen im Leben haben. Natürlich kann man Abitur machen und studieren, ohne ein Gymnasium oder eine Gesamtschule besucht zu haben. Die Gesellschaft sieht das allerdings nicht unbedingt so. Außerdem muss man eine neue Schule besuchen, neue Menschen kennenlernen und sich erneut bemühen, einen guten Eindruck bei den Lehrkräften zu machen. Ist es das wert?
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Die ersten 15 Punkte, die ich in einer Klausur erhalten habe, haben eine große Reaktion ausgelöst. Meine Lehrkraft sagte mir die Note, Tage bevor sie die Klausur zurückgab, mit einem Strahlen im Gesicht. Unter dieser Klausur war ein langes Lob verfasst, überall glückliche Smileys neben meinen Worten. Alle waren ja so begeistert.
Bei den nächsten 15 Punkten erhielt ich ein Lächeln. Höchstens ein „gut gemacht". Heute werden alle 13, 14, 15 Punkte auf den Tisch geschmissen, ohne ein Wort, einen Blick, ohne ein „sehr schön!" unter der Klausur, ohne einen Smiley. Es wurde zum Normalfall. Zum Standard.
Die 13 Punkte sind erfreulich, werden aber dadurch geschmälert, dass dein*e Freund*in 14 hat. Und wenn du 14 hast, jemand anderes aber auch, was sind sie dann noch wert? 15 Punkte sind eine Erleichterung. Aber Freude spürst du längst nicht mehr. Du steckst die Klausur in die Tasche, und die Hälfte des Kurses hält dich für undankbar, denn du freust dich nicht einmal. Die andere Hälfte ist genervt von dir, weil du doch gelächelt hast, wieso musst du auch immer allen so unter die Nase reiben, wie gut du bist?
Du hast 5 Punkte in der Klausur. Dir fällt ein Stein vom Herzen, zum Glück nicht schon wieder ein Defizit. Dann hörst du, dass die Streberin schon wieder 13 Punkte hat. Nicht

einmal das weiß sie zu schätzen. Manche Leute haben es nicht so leicht. Kann man nicht einmal zufrieden mit etwas sein? Hättest du 13 Punkte, würdest du Luftsprünge machen. Wenigstens muss sie nicht ihre Zulassung fürchten.
Die Erwartungen steigen. Erwartungen von den Lehrkräften, von den Eltern, von dir selbst. Alle rechnen damit, dass du perfekt bist. Also lernst du, es zu sein. Niemand soll enttäuscht werden. Die Lehrkräfte sollen dich mögen. Deine Eltern sollen stolz sein. Und du selbst, du weißt doch eigentlich gar nicht, wer du bist. Das. Ist. Der. Standard.
Wir alle stehen täglich in Konkurrenz miteinander. Natürlich geben wir das nicht gern zu, natürlich freuen wir uns über die guten Noten der anderen. Trotzdem wollen auch wir gute Noten haben. Weil uns von Beginn an eingeflößt wurde, dass das alles sei, was zählt. Dazu zählen normale Fragen wie „Hast du schon gelernt? Hast du schon die Hausaufgaben gemacht? Wie viele Klausurbögen hast du geschrieben? Wie viele Punkte hast du?", aber auch das „Hä, wie kann man das denn nicht wissen?", was du leise aus der ersten Reihe hörst, wenn du die Antwort auf eine Frage nicht weißt. Es ist ein ständiger Vergleich. Wenn andere schon gelernt oder ihre Hausaufgaben gemacht haben, ist man gestresst, wenn sie es nicht getan haben, ist man erleichtert. Uns an uns selbst zu orientieren, in unserem eigenen Tempo, nach unserem eigenen Zeitplan zu arbeiten, nur die Aufgaben zu erledigen, aus denen wir einen Mehrwert haben, das wurde uns nie beigebracht.
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Bist du normalerweise ein*e Einserschüler*in, bewerten die Lehrkräfte dich tendenziell besser. Bist du normalerweise ein*e Dreierschüler*in, bewerten die Lehrkräfte dich tendenziell schlechter. Bei gleicher Leistung! Das nennt sich „Halo-Effekt" (danke an Herrn Damm für diesen Fachbegriff!). „Manche Schüler sind nun einmal Einserschüler, andere werden es niemals sein."
Das macht einen Aufstieg quasi unmöglich. Wie soll man sich bessern, wenn die Verbesserung ignoriert, nicht anerkannt wird?
Ich bin ein Zirkuspferd, laufe im Kreis; jemand ist vor, jemand hinter mir, und in der Mitte, mit der Peitsche in der Hand: das Schulsystem. Die Menge im Publikum wird lauter, sie buht mich aus, ich muss schneller rennen, schneller, schneller, schneller. Meine Sicht verschwimmt, der Kreis wird kleiner und kleiner und ich werde immer schneller. Bis ich falle, mir die Beine breche und nie wieder auch nur gehen kann.
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Es wäre doch gerechtfertigt, würden die Muttersprachler*innen in dem Fach ihrer Sprache 15 Punkte bekommen, obwohl sie nie etwas sagen. Die Lehrkraft weiß doch, dass sie es können!
Wer sagt das denen, die Stufen wiederholen oder gar die Schule wechseln müssen, weil sie zu schlechte Noten hatten, weil sie sich nicht getraut haben, sich zu melden, obwohl sie die Antwort doch wussten?
Wer sagt das denen, die aufgrund ihrer Noten keinen Studienplatz bekommen, die sich nie meldeten, weil sie psychisch krank sind, obwohl sie die Antwort doch wussten?
Aber das Argument zählt nicht. Heutzutage muss man auch auf alles achten. Der Standard!
Na gut, du kannst mir ruhig deine Aufzeichnungen schicken. Dann kriegst du vielleicht 8 Punkte. All deine Klausuren wurden mit 14 Punkten bewertet? Es reicht nicht, dass ich weiß, dass du es kannst, du musst dich trauen!
Wieso heulst du jetzt eigentlich? Ich habe dir doch nur eine Frage gestellt.
Menschen sind individuell. Jeder hat andere Interessen, andere Stärken, andere Schwächen, ein anderes Tempo. Vielleicht versteht man das Thema nicht, aber es ist so

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