Das Wort

4 0 0
                                    

Immer, wenn das Wort fällt, habe ich Bilder im Kopf. Dein Badezimmerboden, die Parkbank, die inzwischen nicht mehr steht, aber auch Bilder, die ich nie gesehen habe. Erinnerungen an Gedanken, Vorstellungen und Ängste.
Du hast nach und nach mehr vergessen. Deine Versprechen, meine Worte, meine Gedanken, meine Bitten, bis ich irgendwann ganz verschwunden war. Für dich, aber auch für mich selbst. Denn was du nicht siehst, was du nicht willst, nicht liebst, das war nicht wichtig, war für mich gar nicht da.
Immer nur du. Meine Versprechen, deine Worte, deine Gedanken, deine Bitten. Ich erinnere mich an deine Stimme, dein Gesicht, dein Lächeln. Dein Muttermal über dem Mund erscheint mir im Traum. Ich weiß, dass du es vergessen hast. Du kennst meinen Geburtstag nicht. Sicher weißt du nicht einmal, wie alt ich inzwischen bin.
Und die Frage stellt sich mir immer und immer wieder. Liegt es daran, dass es dir egal ist, oder liegt es an dem Wort?

Manchmal denke ich, dass auch ich vergesse. Vieles ist verschwommen, manches gänzlich verschwunden, denn nachdem das Wort dich gefressen, mir weggenommen hat, hat es sich unsere Liebe gekrallt, bis es auch mich und meine Erinnerungen hatte.
Die Bilder hat es mir gelassen. Bunte Pappe auf jungen Zungen. Bunte Pillen in billigen Tüten. Grüne Knollen auf dem Schreibtisch. Du, tagelang in deinem Bett, der Kater quält dich, du willst nicht mit mir reden, sagst, du wüsstest nicht wieso, um am gleichen Abend das Haus zu verlassen und weiterzumachen. Deine Geschichten verändern sich. Wenn du überhaupt noch welche erzählst. Deine Welt wird farbenfroher, lebendiger, spannender und du siehst es nicht, aber dafür sehe ich es umso besser. Wie es dich auffrisst, deine Energie raubt, dir ist den ganzen Sommer lang kalt und du liegst auf dem Boden und du antwortest mir nicht, jeden Tag denke ich: „Jetzt ist es vorbei. Morgen ist er tot."
Vier, fünf, sechs Jahre später, Krankenwagensirenen und ich denke an dich. Würde ich es wissen, wärst du tot?

Die meiste Zeit bemitleide ich mich selbst. Ich bin wütend und ich trauere um das, was ich an das Wort verloren habe: dich, aber auch meine Jugend.

Es gibt Momente, in denen das Thema aufkommt, für alle anderen fallen ein paar Worte, man lacht oder sagt, dass man es mal probieren würde, dann ist es wieder vergessen. Irrelevant in unserer Welt.
Ich erinnere mich dann, dass „unsere Welt" nicht immer die meine war. Vor allem daran, dass ich nicht weiß, ob sie inzwischen die deine ist.

Es muss so schwer sein. All die Jahre hast du an das Wort verloren, ich habe die Kurve bekommen, bin gegangen, halte mich ganz weit davon fern. Aber du?

Wenn ich dich auf der Straße, am Bahnhof, oder unter einer Brücke finde, niemals nüchtern, ohne Schlafplatz, spindeldürr, müde Augen, ohne Herz und Seele, ich würde mich nicht wundern. Ich weiß nicht, ob du es geschafft hast, auszubrechen. Ob es dich noch verfolgt.

Ich weiß nicht, ob du noch Drogen nimmst. Kannst du schlafen? Kannst du überleben? Kannst du leben?
Dann geht es natürlich wieder um mich: bin ich Schuld? Wärst du clean, wäre ich geblieben?

ZeugWo Geschichten leben. Entdecke jetzt