Angst/Studium

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Seit ich denken kann, habe ich Angst. Vor Situationen, die für andere Menschen alltäglich sind. An die sie sich gewöhnt haben. Bei denen sie nicht nachdenken. Aber ich schon. Natürlich gehören diese Situationen auch zu meinem Alltag, vor allem seitdem ich gelernt habe, sie nicht ständig zu vermeiden. Mich der Angst zu stellen. Aber sie sind nie zur Gewohnheit geworden.

Die Angst ist mein ständiger Begleiter. Angst vor der Beurteilung und Verurteilung anderer. Ja, sie ist von außen betrachtet völlig unbegründet, mein Leben sollte sich um mich drehen und alle anderen sollten mir egal sein.
Aber das sind sie nicht. Auch ich selbst finde keine Erklärung dafür.

Seit 7 Jahren lasse ich mir helfen. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, ohne Angst vor dem Alltag zu leben. Ohne Angst aufzuwachen. Ob nun vor der Schule, dem Einkauf danach, der Nachhilfe am Mittag, der Party am Abend, dem Arzttermin in 3 Tagen, der Kirmes am Wochenende, der Präsentation in 2 Wochen, der Klassenfahrt in 3 Monaten, oder wie jetzt, der Uni in einem Jahr.

Sie hat mich komplett eingefangen. Sie kontrolliert mich. Selbst wenn ich über meine Handlungen entscheide, ihr die Kontrolle darüber nehme, entscheidet sie über meine Gedanken, über meine Gefühle, sie macht, dass mein Bein zittert, dass ich an meiner Lippe knabbere, dass ich an meinen Fingernägeln spiele, meinen Kiefer aufeinanderpresse, mein Mund trocken wird, mein Herz rast, mir die Luft ausbleibt.

Ich versuche sie daran zu hindern, mich abzuhalten. Ich versuche, meine Träume zu leben, meine Pflichten zu erfüllen, mich nicht zu isolieren, mutig zu sein. Aber nie kann ich dabei glücklich oder entspannt sein.

Wenn ich Dinge tue, die ich liebe, ist dort etwas, was mir Angst macht. Überall. Ununterbrochen. Ob es nun daran liegt, dass ich angestarrt werde, dass ich etwas falsches sagen könnte, dass ich Essen kaufen muss, dass ich jemanden ansprechen muss.

Überall, wo Menschen sind, lebt die Angst.

Die Sprache hilft mir. Ich liebe Worte. Das, was sie erschaffen können. Gedanken. Sätze. Texte. Bücher. Lieder. Artikel. Gedichte. Geschichten.

Worte erfüllen mich. Voll und ganz. Sie nehmen mir ein Stück der Last, die mich mein Leben lang begleitet. Wenn ich schreibe, bin ich frei. Ich denke selbstständig. Ich erschaffe eigene Dinge. Ohne Angst und ohne Unterstützung.

Ich lerne gern dazu. Ich lese und analysiere gern neue Dinge. Ich möchte mehr wissen. Ich möchte mich mit Gleichgesinnten auseinandersetzen. Ich möchte mit jemandem über den tiefen Sinn hinter „Das Parfum" oder „Emilia Galotti" sprechen. Ich möchte, dass mir jemand zuhört, wenn ich erkläre, was Mascha Kalékos „Emigranten-Monolog" in mir bewegt. Ich möchte, dass mir jemand seine liebsten Gedichte, seine liebsten Dramen präsentiert.

Und vor allem möchte ich nichts mehr als Deutsch (auf Lehramt) zu studieren. Ich möchte Schülern meine Liebe zur Sprache weitergeben. Ich möchte die Lektüren erträglich machen für die, die sie nicht lieben können und ich möchte denen, die es können, helfen, ihre Liebe zu entfalten.

Aber die Angst ist da. Die Uni ist der Endgegner meiner Angst. Und meine Worte helfen mir nicht. Ich muss Menschen kennenlernen, ich muss mich mit ihnen auseinandersetzen, ich muss sie ansprechen; denn ich werde die sein, die niemanden hat. Schon wieder. Ich werde allein sein. Und in der Einsamkeit hat meine Angst ihren Ursprung gefunden. Dort hat sie Eier gelegt, mehr und mehr, bis es irgendwann zu viele wurden, um sie wieder zu beseitigen. Sie hat sich ausgebreitet und ist nun an keinem Fleck in mir nicht mehr zu finden, außer in dem tiefsten Punkt meines Herzens, in dem sich das befindet, was sie mir nun auch zerstören wird: Sprache. Worte. Deutsch. Das einzige, was noch mir gehört. Das einzige, was mich frei macht. Und sie wird es mir nehmen, wie sie mir in meinem Leben alles genommen hat. Sie wird darauf zusteuern wie eine Furie und den letzten Funken der Hoffnung in mir in der Luft vor meinen Augen zerreißen. Ich kann nichts tun, als mich dagegen zu wehren, als eine Mauer zu bauen, höher und höher, wie ich es immer tue: Ich tue trotzdem, was die Angst mir verbieten will. Ich studiere, ich spreche Menschen an, ich finde Freunde und ich verzweifle, weil die Angst sich dennoch weigert, zu verschwinden. Sie weiß, dass ich schwach bin, dass sie mich brechen wird.

Und
ich
bin
l e e r .

Was ist, wenn sie mir die letzte Hoffnung nimmt, die mich antreibt, immer weiter zu machen?
Was ist, wenn ich sie nicht mehr ertragen kann? Wenn sie sich in meinem ganzen Körper, in meiner ganzen Seele ausgebreitet hat, sodass ich nichts mehr bin

nichts als

Angst

und
ich
z
e
r
f
a
l
l
e
.

-17.11.2022

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