Sonne

11 0 0
                                    

Ich balanciere auf einer Mauer, meine Eltern laufen neben mir her. Ich bin 6 Jahre alt. Meine Mutter erzählt mir, dass ich ein Geschwisterkind bekommen werde.

Ich besuche meine Mutter im Krankenhaus. Plötzlich platzt ihre Fruchtblase. Ich kann mich nicht erinnern, jemals zuvor so aufgeregt gewesen zu sein. Die ganze Nacht kann ich nicht schlafen. Meine Großeltern und ich warten gemeinsam auf den Anruf. Wir alle können uns vor Aufregung nicht halten, als er endlich kommt.

Ich betrete das Krankenhauszimmer.
Und ich sehe
Dich.
Winzig klein in diesem Kasten, mit Schläuchen um dich herum. Ich verstehe nicht, was es bedeutet, dass du jetzt da bist. Freuen tue ich mich dennoch.

Ich darf dich zum ersten Mal halten. Mama zeigt mir, wie es richtig geht, ich muss die Hand unter dein immer noch so kleines Köpfchen legen. Ich lerne schnell, wie man auf dich aufpasst.

Du wächst und wächst und deine blauen Augen wachsen mit. Wir toben vor dem Schlafengehen in Mamas und Papas Bett.

Wir streiten uns um eine Barbiepuppe. Ich frage mich, wie deine stumpfen Fingernägel so eine Kraft haben können, dass ich einen blutenden Kratzer an meiner Stirn habe.

Es ist dein erster Kindergartentag. Dann folgt ganz schnell dein letzter. Deine Einschulung.

Du bist ein Wirbelwind. Ganz anders als ich. Du willst möglichst viel sehen, erleben, du tobst und tobst. Durch dich will ich das auch.

Wir sind 14 und 7. Es kommt eine schwere Zeit für mich und du bist noch ganz klein, kannst das bestimmt alles nicht richtig verstehen. Nachts komme ich oft an dein Bett. Manchmal lese ich dir eine Geschichte vor, meistens schläfst du schon. Ich schaue dich an, streiche dir durchs Haar. Wünsche mir, dass dein Leben wundervoll wird. Dass du dich liebst und glücklich bleibst. Einmal hörst du mich weinen. Du erschrickst und tröstest mich. Du sagst immer wieder, wie sehr du mich liebst. Wir reden lange.
Ich weiß nicht mehr wieso, aber ich verspreche dir, irgendwann mit dir ins Disneyland zu fahren.

Wir sind 16 und 9. Du kommst in die weiterführende Schule und wir ziehen um. Dein Zimmer ist nicht mehr direkt neben meinem. Papa ist nicht mehr da. Habe ich dich je gefragt, wie sich das für dich anfühlt?

Wir reden viel. Immer noch. Du bist so anders als ich, aber meine Liebe ist bedingungslos. Ich weiß, deine ist es auch.

Mama hat einen neuen Freund und alles ist anders. Wie kann bereits unendliche Liebe immer mehr werden? Liebe hat keine Grenze. Das habe ich durch dich gelernt.
Wir sind 18 und 11 und immer, wenn ihr streitet, immer, wenn du weinst, sage ich etwas und nehme dich mit in mein Zimmer. Du sagst mir, dass es dir leid tut. Mir rutscht so raus, dass es dir nicht leidtun muss, sondern mir. Weil ich bald ausziehen kann, du aber noch ein paar Jahre vor dir hast. Es war unsensibel und du brichst in Tränen aus. Zum Geburtstag schreibst du mir Karten darüber, dass dein Leben ohne mich sinnlos wäre, ich der allerwichtigste Mensch in deinem Leben sei und du so werden wollen würdest wie ich.

Ich bin jetzt 20 und du wirst bald 13. Wir streiten selten, aber heute tun wir es. Ich knalle dir gegen den Kopf, dass ich vorhabe, in den kommenden Monaten auszuziehen. Du schaust mich fassungslos an und fängst an zu weinen. Ich nehme dich ganz fest in den Arm und sage dir, dass ich dich nicht mitnehmen kann, weil dein Leben und deine Freunde hier sind. Du sagst, dass ich deine Freundin bin.

Unsere gemeinsame Zeit ist verflogen und ich weiß nicht, wie es sein wird, an einem fremden Ort, ganz ohne dich. Damals habe ich nicht die Signifikanz dessen verstanden, dass du nun da bist, dafür bin ich mir ihr heute bewusst. Ich habe eine Schwester bekommen. Jemanden, der Leben ins Haus bringt, die Tür öffnet, wenn ich nach Hause komme, im Urlaub neben mir im Bett schläft, im Flugzeug meine Hand hält, mir zuhört, wenn es mir schlecht geht und mir berichtet, wenn es ihm schlecht geht, der sich aufrichtig für mich interessiert und mich bewundert, wenn ich es am meisten brauche, der mit mir spielt, wenn ich mich langweile, mich verteidigt und sich freut, wenn ich mich freue. Auch wenn wir uns nicht gesehen haben, wusste ich, dass du da bist. Jeden Tag seit du auf der Welt bist. Ich war nie einsam.

Seitdem ich dich das erste mal gehalten habe, habe ich dazugelernt. Inzwischen weiß ich am besten, wie man auf dich aufpasst. Das gelernt zu haben, war mir eine Ehre.

Der Kratzer, den mir deine stumpfen Fingernägel auf verwunderliche Art und Weise verpasst haben, ist nun eine Narbe. Wir lachen darüber. Sie könnte mich nicht weniger stören. Ein Teil von dir ist bei mir. Sichtbar für jedermann.

Im Disneyland waren wir noch nicht. Für mich ist klar, dass wir das noch nachholen werden.

Wo ich bin, wird immer Platz für dich sein. Ich sehe es gern so, dass du meine Kompensation bist, für all das, was mir fehlt. Das Licht am Ende des Tunnels. Meine Sonne. Und es ist genug. Du bist genug. Ich würde dich nicht eintauschen, hätte ich die Wahl. Ohne dich wäre ich nicht ich. Ohne mich wärst du nicht du. Du bist wie mein eigenes Kind und meine beste Freundin in einem.
Ohne eine Schwester, ohne dich als Schwester, wäre mein Leben nicht komplett gewesen.

„Denn ohne dich
bin ich nicht ich.
Ist die Sonne wie der Regen,
ist ein Triumph kein Grund zur Freude,
ist ein Freund ein Feind,
ein Lachen ein Weinen,
scheint die Helligkeit dunkel,
und die Wärme kalt." (24.07.2018)

-25.08.23

ZeugWo Geschichten leben. Entdecke jetzt