Heimat/ Was bleibt?

10 0 0
                                    

Dieses Haus ist schon lange nicht mehr mein Zuhause.
Die Bilder und Poster liegen in der Ecke, weil ich nie dazu gekommen bin, die kahlen Wände damit zu verschönern. Mein Garderobenschrank steht nicht dort, wo er stehen sollte, die Schuhpaare befinden sich aufgereiht neben dem Bett. Mein Vorhang ist nicht blickdicht. Den Balkon haben wir nie renoviert. Meine Bücher liegen überall herum, weil in den Schränken kein Platz für sie ist. Das eine Regal liegt neben der Couch. Der Badezimmerspiegel lehnt am Schreibtisch. Der Kühlschrank ist leer. Es ist keine Tüte im Mülleimer.

Ich denke, ich wusste tief in mir, dass sich all das nicht mehr lohnt. Dass ich mir einen Ort suchen werde, der es wert sein wird, als meine Heimat bezeichnet zu werden.

Aber an der rechten Seite meines Bettes sind Spuren von den Stickern aus einer alten Bravo, die mein erster Freund dort hingeklebt hat. In meinem Boden ist ein Brandloch von der Shishakohle, die vor Jahren während einer Party heruntergefallen ist. In der Steckdose steckt ein Gerät, das der Ex Freund meiner Mutter dort angebracht hat, damit ich besseres Internet haben würde.

In dieses Haus wurde ich im Maxicosi gebracht. In dem Zimmer, in dem ich nun schreibe, habe ich die ersten vier Jahre meines Lebens gewohnt. An der Wand, die wir vor 3 Jahren neu gestrichen haben, waren Abdrücke meiner Hände und Füße. Ich habe sie herausgeschnitten und aufbewahrt. 24.08.2005. Blaue Hände, blaue Füße auf rosa Tapete. Es ist ein Zufall, dass heute ebenfalls der 24.08 ist.

In diesem Haus habe ich zig Mal übernachtet, als meine Großeltern noch hier gelebt haben. Ich bin im Garten gerutscht, geschaukelt, habe Kirschen gepflückt, Fische im Teich beobachtet, den es längst nicht mehr gibt, Märchenbücher mit meiner Oma gelesen und mit Freundinnen verstecken oder fangen gespielt. Wir haben jedes Weihnachten im Wohnzimmer gefeiert. Meine Schwester und ich warteten im ehemaligen Kinderzimmer meiner Mutter, welches jetzt meiner Schwester gehört, bis die Glocke läutete, was hieß, dass das Christkind da gewesen war.
Ich habe nach der Schule hier Mittag gegessen, mit meinem Opa Hausaufgaben gemacht, mit meiner Oma Rommee, Kniffel oder Schwimmen gespielt.

Und vielleicht ist das das Gute daran, dass meine Mutter eben nur meine Mutter, und nicht meine Freundin ist. Es tut nicht weh.

Gemeinsame Abendessen, Fernsehabende, Familienausflüge, Umarmungen und Tratsch sind schon lange kein Teil meines Lebens, unserer Beziehung mehr. Zwei Monate habe ich nun mein Abitur. In dieser Zeit habe ich, wenn es hoch kommt, zehn Nächte hier verbracht. Das macht das Gehen einfacher.

Dennoch tut es weh, diesen Ort zu verlassen.
Ich habe auf dem Spielplatz eine Straße weiter Fahrradfahren gelernt.
In der Nähe ist die Kirche, in der ich getauft wurde, meine Kommunion und Firmung hatte. Wir waren jedes Weihnachten dort.

Dem Weg, den ich damals nächtlich zu meinem Ex Freund lief, könnte ich blind folgen. Er führt an dem Jugendheim vorbei, in dem mein Chor seit über einem Jahrzehnt stattfindet. Jeden Donnerstag.
Zwei Häuser weiter wohnt das Mädchen, mit dem ich früher oft gespielt habe. Damals war sie mir zu jung. In zwei Jahren ist auch sie erwachsen.

Diese Straßen bin ich alljährlich zu Karneval entlanggelaufen. Hier war das immer ganz normal. Meine Süßigkeiten haben bis Ostern gereicht. Einer von den heiligen drei Königen war ich auch. In diesen Straßen, in diesem Dorf.

Der Ort bedeutet mir etwas. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob er mehr positive oder negative Erinnerungen mit sich trägt, aber im Endeffekt war er viele Jahre das, was ich als „Zuhause" kannte.
Ich bin bereit, mir ein neues zu suchen. Ich bin bereit, dieses Leben hinter mir zu lassen.

Aber ich werde den Kirschbaum im Garten vermissen. Den Eismann, der direkt neben der Haustür hält. Bekannte Gesichter auf dem Marktplatz. Den Chor. Meinen Hund. Meinen Freund. Seine Familie. Meine Großeltern.

Meine Schwester.
Was bleibt für sie, wenn ich gegangen bin? Wenn dieses Zuhause kein Zuhause für mich ist, obwohl sie Teil davon ist, was ist es für sie, wenn ich keiner mehr davon sein werde?

-24.08.23

ZeugWo Geschichten leben. Entdecke jetzt