Kapitel 12

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⋇⊶⊰❣⊱⊷⋇ ⋇⊶⊰❣⊱⊷⋇ 

Wenn Marina gehofft hatte, dass sie zu Hause freudig empfangen würde, so hätte sie es besser wissen müssen. Oder nein, so etwas konnte kein Kind wissen, das sich nach der Liebe der Eltern und vielleicht ein wenig Verständnis von den Geschwistern erhoffte. 

„Ist die Woche schon vorüber?", fragte der Vater mit gerunzelter Stirn. 

Dieser eine Satz reichte aus, dass niemand sie umarmte oder nach ihrem Befinden fragte. 

„Ja, Vater", antwortete Marina. 

„Nun, der Aufenthalt im Wald scheint dir nicht geschadet zu haben. Du siehst nicht so aus, als hättest du eine Bestrafung erfahren. Ich werde mit dem Gelehrten Atticus sprechen." Hoch aufgerichtet stand er da. Ihr Herz schlug heftiger und sie schluckte mühsam. Angst wallte in ihr hoch. Der Gedanke an die kleine Kammer erfüllte sie so sehr, dass sie kaum wahrnahm, wie der Vater hinzufügte: „Zieh dich zurück. Ehe ich nicht eine geeignete Bestrafung für dich gefunden habe, erhältst du kein Essen." 

Am ganzen Körper zitternd schlich Marina in die gemeinsame Kammer, stellte ihre Schultasche in einer Ecke ab und legte sich anschließend auf ihr Lager. Doch die Nacht schlief sie sehr unruhig. In ihren Träumen vom Vater, der sie in der kleinen Kammer mit der Gerte auspeitschte, mischten sich Träume von Frauen in langen Gewändern, die leuchtende Steine trugen und an Männer weiterreichten, die hinter ihnen auftauchten. So sehr sich Marina bemühte, die Personen zu zählen, es gelang ihr nicht. Sie schreckte aus den Träumen hoch, ehe sie in den nächsten unruhigen zurückfiel. 

Entsprechend war sie am nächsten Morgen müde. Dass sie kein Frühstück erhielt, machte es für sie schlimmer. Am liebsten wäre sie zurück in den Wald geflohen. Doch was dann? Sie war erst zwölf. Nicht mehr lang und sie wurde dreizehn. Leider war das auch nicht alt genug, um als Geschichtenerzählerin durch die Welt zu reisen. Nicht einmal Tabina, die noch vor ihr Geburtstag hatte und fünfzehn wurde, traute sie es zu, sich allein durch die Welt zu schlagen. Und Tabina aß im Gegensatz zu ihr Fleisch und Fisch und konnte sich somit zu jeder Jahreszeit gut ernähren. Kräuter und Beeren wuchsen in der kalten Jahreszeit nicht. 

Als die Familie hintereinander den Weg zum Dorfkern antrat, musste Marina erneut als Letzte gehen. Sonst war die Mutter immer die Letzte, um aufzupassen, dass auch ja jedes Kind den richtigen Weg nahm und sich nicht unterwegs in Träumen verlor. Doch nun schritt die Mutter direkt hinter dem Vater voran. Das verstärkte das ungute Gefühl in Marina. War irgendetwas in der Woche geschehen, die sie im Wald zugebracht hatte?

Somaris löste sich als Erste aus der Reihe, um zum Hof von Bauer Eklund zu gehen, bei dem sie vormittags lernte. Wenn sie sich gut anstellte, konnte es sein, dass sie im nächsten Jahr bei ihm eine Lehre machen durfte. Neiderfüllt blickte Marina der älteren Schwester hinterher, die mit geradem Rücken dahinschritt. Ihr Gang war so leicht und beschwingt, dass ihr Rock um ihre Fußknöchel schwang. Diese Woche wurde sie sechzehn. Ob sie schon einen Liebsten gefunden hatte? Nicht jede konnte sich so viel Zeit lassen wie Daloris, die im Winter schon neunzehn wurde. Neunzehn! Geran wurde im Herbst zwanzig. Er musste sich ihr endlich erklären, sonst gab es eine Katastrophe. Kein Mädchen war mit neunzehn noch unverheiratet. Das ging einfach nicht. 

Die Eltern schritten mit Torlund und Daloris als Nächste aus der Reihe. Sie blickten sich nicht um, sondern gingen geradewegs zum Krämerladen. 

Ehe Marina das ungute Gefühl in ihrem Magen richtig deuten konnte, hörte sie schon Tabinas verächtliche Stimme. „Endlich allein. Wurde auch Zeit. Glaub bloß nicht, dass dich die eine Woche Waldaufenthalt gerettet hat." Marina schluckte nervös. Ihr Herzschlag erhöhte sich und begann einen ungewollt lauten Takt in ihren Ohren zu schlagen. „Ich habe Vater schon gesagt, dass der Gelehrtensohn dich gefüttert hat." 

Das magische LandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt