Bewertet

20 4 7
                                    

Als Perfektionistin habe ich nur eine Sicht auf die Welt, eine traurige Wahrheit, die mir selbst nicht gefällt. Ich wache morgens auf und alles rauscht mir durch den Kopf, wie ein Sturm in einem kleinen Topf:

Du musst jenes noch tun, hast dies noch vor, und darfst das eine auf gar keinen Fall vergessen!

Doch mein Kopf hat nur einen begrenzten Speicher, keine Kapazitäten für kleine Lappalien, die niemanden interessieren.

Niemanden interessieren?

Doch mich!

Dieser eine Punkt, der in der Klausur fehlte ...

Hätte ich doch nur!

Diese eine Aufgabe, die ich nicht lösen konnte ...

Hätte ich doch nur!

Dann schnell nach Haus, essen, und weiter lernen.

Denn ich muss jenes noch tun, habe dies noch vor, und darf das eine auf gar keinen Fall vergessen!

Aber warum mache ich das alles mit?

Meine Leistungen, mein Wert in der Schule, steigen mit jeder Meldung, mit jedem Satz, den ich in einer Klausur schreibe, jedem interessierten Nicken, wenn ich doch innerlich kurz vor dem Zusammenbruch stehe. Schon zusammengebrochen bin?

Alles wird bewertet. Jedes Einatmen, jedes Ausatmen. Einmal stottern, und schon rutschst du zwei Notenpunkte ab.

Kann ich eine Extraaufgabe machen?, frage ich, um statt den 14 Punkten doch noch die 15 zu bekommen. Lache fast über meine Naivität.

Und das alles nur für ein Stückchen Papier, welches in zehn Jahren doch keine Sau mehr interessiert.

Ich sitze in der Klasse, nach einer Fünf-Stunden Klausur, habe länger geschrieben als die Nacht davor geschlafen, doch ich muss jenes noch tun, habe dies noch vor, und darf das eine auf gar keinen Fall vergessen!

Und so meine ich das auch, denn wenn die Frist von jenem abläuft, bekomme ich dafür eine sechs, wenn ich dies nicht erledige, muss ich es am Wochenende nachholen, und wenn ich das eine vergesse ...

Tja, was dann? In 95 Prozent der Fälle wird das doch eh nicht kontrolliert. Aber was ist mit den anderen 5 Prozent?

In den anderen 5 Prozent könnte ich ...

Ich weiß es nicht, ... vielleicht ermahnt werden?

Laut seufze ich auf, kann nicht mehr, doch dieser eine Punkt, den ich jetzt verlieren könnte, wenn ich mich nicht melde ...

Das Zeugnis in der Hand, mein Kopf an der Wand. Das Schuljahr vorbei, ich noch voll dabei.

Schwarz auf weiß steht es dort: Nur 15, 14 oder 13 Punkte, nur Einsen, doch trotzdem ein Schnitt von 1,2.

Naja, die 1,0 schaffe ich dann halt nächstes Jahr.

Aber davor muss ich jenes noch tun, habe dies noch vor, und darf das eine auf gar keinen Fall vergessen!

---
Hallöchen,
der Text beschreibt im Grunde genommen meine letzte Woche.

21. September 2023 🌼

PS: ein halbes Jahr später und ich habe endlich die 1,0 geschafft!! Puh, das war anstrengend...

Poetry Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt