Eine längst vergangene Zeit

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Als Kind will man immer erwachsen sein. Man möchte seine eigenen Entscheidungen treffen dürfen, frei sein dürfen, reisen dürfen.
Man möchte endlich den Führerschein, ausziehen, seinen eigenen Weg gehen.
Damals verging die Zeit so unglaublich langsam. Die Grundschulzeit dauerte schlichtweg ein Jahrzehnt, und für den Kindergarten kam gleich noch Eins obendrauf.
So kroch die Zeit, getarnt als alte, senile Schnecke vor sich hin.
Lange gab es nur ein Hoffen, ein Betteln, ein Ersehnen, ein Wünschen,
danach groß zu sein, frei zu sein. Endlich!
Aber ich war für das alles zu jung, zu klein und zu unerfahren.
Verständlich, denn ich hatte keinen Plan von gar nichts, schon gar nicht davon, wie die Welt funktionierte.
Dann! Auf einmal gab es einen Sprung, eine Klippe, die uns alle verschlang. Mit weit aufgerissenem Maul und scharfen Fangzähnen.
Die langsame, alte, senile Schnecke legte einen Endspurt ein und hängte uns alle ab.
Ohne Vorwarnung waren wir plötzlich nicht mehr zu jung, zu klein und zu unerfahren. Wir hatten einen Plan von der Welt, wussten wie sie funktioniert. Oder?
Aus dem: "Wenn ihr dann mal Abi macht", wurde plötzlich ein "So! Morgen schreibt ihr eure letzten Klausuren! Seid ihr gut vorbereitet?"
Nein! Bin ich nicht!
Aus dem: "Bleib ganz dicht bei mir!" meiner Eltern wurde ein Abschiedskuss am Flughafen, als ich zum ersten mal alleine in den Urlaub flog. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, wie ein kunterbuntes, oder doch eher graues, Wirrwarr: Lange gab es nur ein Hoffen, ein Betteln, ein Ersehnen, ein Wünschen, danach groß zu sein, frei zu sein. Endlich!
Endlich?
Nein!
Kein Endlich!
Was soll bitte schön so toll daran sein, mutterseelenallein an einem fremden Ort zu sein?!
"Ist es so wie du es immer wolltest? So wie du es dir immer vorgestellt hast?", fragt meine Mutter am Telefon.
"Ja", sage ich.
Tränen in den Augen.
Angst in den Knochen.
Den Rücken hinaufkriechend.
Ja, es ist so, wie ich es immer wollte. Genau so. Und doch so falsch.
Meine Gefühle sind falsch!
Wo Freude sein sollte, ist Angst. Wo Freiheit sein sollte, ist das Gefühl der Verzweiflung. Wo meine Eltern sein sollten, ist nur kalte Luft. Sonst nichts.
Ich bin auf mich allein gestellt.
Niemand, der mich in den Arm nimmt, wenn ich jetzt falle,
niemand, der mir sagt, in welchen Zug ich steigen soll.
Niemand, der mir jetzt die Verantwortung von den Schultern nimmt, wie ich es doch so sehr gewohnt bin.
"Nur Mama und Papa bekommen doch alles hin", das weiß schon jedes Kind, selbst wenn es noch nicht richtig laufen kann. Nur bei ihnen ist doch immer alles richtig!
Jetzt trage ich die Verantwortung, sie schnürt mir die Kehle ab und reißt mich fort von meiner ach so erhofften "Freiheit".
In einer längst vergangenen Zeit, sitze ich mit meinen Eltern im Urlaub und spiele Karten. Mein Bruder mir gegenüber.
Doch in der heutigen Zeit weiß ich, dass so ein Urlaub, so unbeschwert und so frei, wie wir ihn damals erlebt haben, nur noch in einer längst vergangenen Zeit existieren kann.
Doch in dieser längst vergangenen Zeit, habe ich es nicht genossen, konnte es nicht genießen, denn ich habe nur an die Zukunft gedacht.
So wie ich es jetzt mit meiner Vergangenheit tue.
In einer längst vergangenen Zeit, hätte ich meine Freiheiten mehr genießen sollen, denn das waren sie!!
Seien wir mal ehrlich, man will doch leider immer genau das, war man gerade nicht haben kann.
Wie eine schon längst vergangene Zeit zurück zu bekommen.

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Hallöchen,
in letzter Zeit bin ich immer etwas sentimental, wenn es um die Vergangenheit geht. Ich vermisse diese unbeschwerten Zeiten, und bald wird alles komplett anders sein. Das hat mich auch dazu motiviert um ein Uhr morgens diesen Text hier zu schreiben.

7. November 2023 🌼

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