VI. Angekommen in Corona

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Am Morgen wurde ich unsanft von Eugenes lautem Gebrüll geweckt. Als ich die Augen aufriss, sah ich Maximus, der Eugene an seinem Schuh wegzuziehen versuchte. Rapunzel war schneller als ich auf den Beinen und nahm Eugenes Arme, um ihn zurückzuziehen, während ich auf Maximus einredete. Er schien so verwirrt von meiner Präsenz, dass er Eugene fallen ließ. Anscheinend hat er mich am Damm gar nicht wirklich gesehen oder einfach nicht erkannt. Es brauchte noch etwas Hin- und Hergetanze und einige beruhigende Worte von Rapunzel, bevor Maximus sich endlich setzte.

"Hör zu. Heute ist sozusagen der wichtigste Tag in meinem Leben. Und die Sache ist die, ich fände es ganz toll, wenn du ihn nicht verhaftest. Nur für 24 Stunden und danach könnt ihr euch nach Herzenslust wieder so richtig jagen, okay?" Maximus starrte Eugene immer noch böse an. "Und ich habe heute Geburtstag, nur um das mal gesagt zu haben." Mit einem Pferdeseufzer legte Maximus seinen Huf in Eugenes Hand und der Deal war geschlossen.

Rapunzel, der anscheinend die Glocken aus der Stadt gehört hatte, lief dem Geräusch nach, woraufhin wir alle folgten. Ich gleich neben ihm.

"Alles Gute zum Geburtstag übrigens. Dann hast du ja sogar am selben Tag Geburtstag, wie der Prinz. Was ein Zufall. Ich hätte dir ein Geschenk gebracht, wenn wir nicht beschäftigt gewesen wären. Vielleicht finden wir ja eins in der Stadt." Rapunzel lächelte. "Danke und keine Sorge. Du musst mir nichts schenken. Wenn wir heute den Tag zusammen verbringen können, reicht mir das. Und was ist das mit dem Prinzen?" Wie kann er beiläufig sowas sagen und ich werde gleich rot? Ich fange doch nicht etwa an, ihn zu mögen? Heilige Scheiße.

Ich räusperte mich, bevor ich antwortete. "Die Laternen werden am Geburtstag des vermissten Prinzen fliegen gelassen. In der Hoffnung, dass er irgendwann wiederkommt." Rapunzel lächelte immer noch und sah mich genau an, während er mir zuhörte. Doch als er die Stadt zu Gesicht bekam, war sein Fokus verständlicherweise ganz woanders.

Er sprang förmlich über die Brücke, die nach Corona führte. Als er in der Stadt ankam, rempelte er ungeschickt mehrere Leute an, bis ich ihn stoppte. "Hey, tief durchatmen."

Flynn bemerkte im selben Moment wie ich ein kleines Problem. Alle traten über Rapunzels Haare hinüber und er würde nicht wirklich frei laufen können, ohne von seinen Haaren zurückgehalten zu werden. Doch glücklicherweise lag die Lösung auf der Hand.

In Corona gab es vier Geschwister, die unheimlich gern Haare flochten. Sie flochten sie sich immer gegenseitig in der Nähe des Brunnens und immer, wenn jemand mit längeren Haaren vorbeikam, wollten sie auch deren Haare flechten. Rapunzels Haare sollten ein reinstes Geschenk sein.

Schnell sammelten wir die goldenen Haare auf, was ihm irgendwie unangenehm zu sein schien, und gingen zu den Mädchen. Als sie Rapunzel sahen, strahlten alle viel bis über beide Ohren, bevor sie sich sofort an die Arbeit machten.

Rapunzel setzte sich gleich hin, während Flynn und ich an einer kleinen Erhöhung lehnten. Maximus stand neben Eugene. Ich könnte schwören, dass er die Stunden zählt, bis er meinen Bruder verhaften kann.

Die Wachen, die die Stadt patrouillierten, hörte ich zum Glück schon zeitiger und konnte Eugenes Kopf rechtzeitig herunterdrücken, bevor sie ihn sahen.

"Du solltest wirklich aufpassen. Dein Gesicht hängt hier an jeder Ecke. Es wäre wirklich schlauer, dich irgendwo zu verstecken." Er zog grinsend eine Augenbraue nach oben. "Und den ganzen Spaß verpassen? Keine Chance. Du bist doch da und kannst aufpassen." Ein Klaps auf den Hinterkopf bekam er dafür. Theatralisch rieb er sich die getroffene Stelle, doch ich ignorierte ihn völlig, als ich Rapunzel sah, der nun mit vollständig geflochtenem Haar, das ihm jetzt nur noch bis zu den Füßen reichte, vor mir stand.

Er sah mich grinsend an und hatte die Arme geöffnet, als wollte er fragen, wie er aussah. Ich hätte schwören können, dass mein Herz ein wenig schneller geschlagen hatte.

"Gute Arbeit, Mädels", rief ich zu den Geschwistern, die schon kichernd wegliefen. Die Älteste winkte uns noch zu. Danach drehte ich mich wieder zu Rapunzel. "Du siehst wirklich toll aus." Vielleicht bildete ich mir es auch nur ein, aber ich glaube, Rapunzel wurde rot.

Er fing sich allerdings schnell wieder und lehnte sich ein Stück zu mir herunter. "Du siehst auch nicht schlecht aus." "Ich sehe genauso aus wie gestern auch." "Du sahst auch gestern fabelhaft aus." Schnell räusperte ich mich, um mein Herz wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ich bin Komplimente nicht gewohnt, vor allem nicht von so attraktiven Menschen wie Rapunzel.

"Wie wärs, wenn wir weitergehen? Du hast noch viel zu sehen, bevor wir heute Abend die Laternen fliegen sehen." "Wenn du meinst." Er hatte ein äußerst zufriedenes Grinsen aufgesetzt, als wir zusammen durch die Marktstraße gingen. Eugene hingegen schien nicht sehr amüsiert. Er musste immer wieder gucken, dass niemand der Palastgarde ihn sah und mit Maximus herumzulaufen half nun auch nicht wirklich. Aber er wollte eben seine Tasche wieder und dafür musste er Rapunzel folgen, auch wenn ich die Führung in der Stadt übernahm.

Rapunzel war begeistert, blieb fast überall stehen und stellte viele Fragen. Bei manchen wurde ich schmerzhaft dran erinnert, dass er sein ganzes Leben in Gefangenschaft gelebt hatte, aber trotzdem beantwortete ich alle und versuchte auf seinem Level von Enthusiasmus zu bleiben. Allerdings war dieser Mann ein reinstes Kleinkind an Weihnachten den ganzen Tag lang. Da war es schwer, mitzuhalten.

Auf dem Marktplatz war er besonders fasziniert von dem Mosaik der Königsfamilie. Es zeigte auch den Prinzen, als er noch ein Baby war. Strahlend blondes Haar, grüne Augen. Erinnert mich irgendwie an Rapunzel, aber das wäre doch gelacht, wenn Eugene auf der Flucht den vermissten Prinzen aufgegabelt hätte. Sowas passiert nur in Märchen.

Kopfschüttelnd folgte ich Rapunzel, der gerade anfing, das Symbol von Cororna, die Sonne, mit Kreide auf die Steine des Marktplatzes zu zeichnen. Die Leute um ihn herum waren genauso verblüfft wie ich von seinen künstlerischen Fähigkeiten. Mir fiel sofort eine Geschenkidee ein.

Schnell lief ich zurück zu einem Stand für Zeichenzubehör. Ich sprach fröhlich mit der Frau hinter dem Tresen, bis mir ein Pinsel ins Auge fiel. In dem braunen Holz des Griffes waren mehrere goldene Corona-Sonnen geprägt. Schnell übergab ich der Verkäuferin das nötige Geld, wobei mir auffiel, dass ich weniger Geld im Geldbeutel hatte, als eigentlich darin sein sollte. Es auf meine Vergesslichkeit schiebend, steckte ich den Pinsel ein und ging zurück zu Rapunzel. Das Geschenk war nicht viel, aber es würde ihm hoffentlich gefallen.


Wahre Träume (m. Rapunzel)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt