Furcht

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Alles, was ich jemals wollte, war genug für irgendjemanden zu sein. Eine Person, auf die man stolz sein konnte und die man bei Familienfeiern immer dann erwähnte, um anderen zu zeigen, dass es so etwas wie eine Bilderbucherfolgsgeschichte doch noch gab. Jemand, dessen Name man nannte, wenn man ein tadelloses Beispiel an Erziehung und harter Arbeit vorbringen wollte.

Die Wahrheit war, dass ich auf jeder Familienfeier erst dann erwähnt wurde, wenn man jemanden brauchte, über den man den Kopf schütteln konnte.

»June sollte sich mehr anstrengen, wenn sie nach Oxford will.«

»Was hat sich June nur dabei gedacht, Ballett einfach hinzuschmeißen?«

»Aber sie hat doch die Noten, wieso macht sie da nichts draus? Schickt sie einfach nach Amerika.«

»Hat June etwa zugenommen? Sie sollte eine dieser Shake-Diäten machen.«

»Macht mit ihr mal mehr Urlaub in der Sonne. Sie sieht kränklich aus.«

June bin ich. Junica Joan Langford. Und ich bin leider das einzige Kind meiner Eltern, weshalb ich mich nicht mal hinter einer arrivierten Schwester oder einem erfolgreichen Bruder verstecken konnte. Stattdessen habe ich gelernt, dass nichts jemals gut genug für meine Eltern war. Egal ob ich am Weihnachtsmorgen ein Gedicht fehlerfrei vor dem Weihnachtsmann, der eigentlich Onkel Andrew war, aufsagte oder aber die Bestnote in einem für meine Eltern unwichtigen Fach, wie kreatives Schreiben bekam.

Es. War. Nicht. Genug.

Als ich mich am Anfang des Jahres für Oxford beworben hatte, ging ich fest davon aus, dass meine Bemühungen der letzten Jahre ebenfalls nicht genug gewesen waren. Doch als im Frühjahr die Zusage kam, war ich glücklicher als jemals zuvor.

In meinen schlimmsten Vorstellungen hatte ich mich schon mit gepackten Koffern in einem College in Amerika gesehen. Weit weg von meiner Familie, damit mein Vater sich nicht die Blöße vor Freunden und Kollegen geben musste, dass es am Ende für mich in Oxford doch nicht gereicht hatte.

Doch es hatte gereicht. Am Ende hatte es gereicht. Und nun war ich drin. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Genau in diesem Moment stand ich in meinem kleinen Einzelzimmer, das nun für mindestens drei Jahre mein neues Zuhause sein würde. Meine beiden braunen Lederkoffer, die meine Mutter mir im Sommer aus einem Laden in Paris mitgebracht hatte, standen direkt neben meinem Schreibtisch. Sie warteten darauf, eine Vielzahl langweiliger Outfits zu entladen, die in den zweitürigen Schrank neben der Zimmertür einsortiert werden wollten.

Aber ich war noch nicht bereit, um meine Sachen auszupacken. Für den Moment wollte ich einfach nur hier stehen und auf den Park vor meinem Wohnheim hinuntersehen, wo so viele Familien beisammenstanden. Sie lachten, sie weinten und umarmten sich. Ich vermutete, dass sie sich gegenseitig viel Erfolg und Glück wünschten. Dass die Eltern ihre Tränen versteckten, um ihre Kinder nicht zu verunsichern. Dass sie vor Stolz platzten.

Und ich stand hier oben in meinem Zimmer. Allein.

Weder mein Vater noch meine Mutter hatten sich heute frei genommen, um mich auf den Campus bringen. Niemand war hier, um mich in mein neues Leben zu begleiten. Ein Fahrer hatte mich und mein Gepäck vor etwas mehr als einer Stunde hier abgeladen. Die Schlüssel für mein Zimmer überreichte er mir zusammen mit einem schneeweißen Briefumschlag, auf dem mein Name stand.

Zum ersten Mal, seitdem ich hier vor einem meiner beiden Sprossenfenster stand, blickte ich auf eben diesen Umschlag. Ich hatte ihn auf den Schreibtisch gegenüber gelegt. Die Schlüssel direkt daneben.

Der Fahrer hatte mir nicht gesagt, von wem dieser Brief war, aber das brauchte er auch nicht. Die feine Handschrift meiner Mutter würde ich überall wiedererkennen.

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