Ein gefährliches Spiel

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Der Brief meiner Mutter beschäftigte mich noch am nächsten Morgen. Ich hatte aufgrund meiner privilegierten Situation ein eigenes Badezimmer, in dem ich nun stand und mein weichgezeichnetes Spiegelbild vor mir betrachtete. Weichgezeichnet deshalb, weil sich der Wasserdampf wie ein Schleier auf die Oberfläche gelegt hatte.

Ein Schleier, der sich ebenfalls um meinen Gemütszustand legte.

Du wirst bald von ihnen hören.

Ich konnte meine Mutter telefonisch nicht erreichen und saß deshalb eine Weile, umschlossen vom flauschigen Stoff des Bademantels auf meinem Bett und starrte auf das Display meines Laptops.

Mein Mailprogramm war geöffnet. Es erschein für andere vielleicht seltsam, aber meine Eltern waren am einfachsten über das Postfach ihrer Firma zu erreichen. Wir kommunizierten seit mehreren Jahren bereits auf diese Weise.

Als ich allerdings meine Fragen formuliert hatte, überkamen mich Zweifel. Wieso hatte sie mir einen Brief gegeben?

Wieso keine Mail? Wieso keine Nachricht auf meinem Handy?

Wieso kein persönliches Gespräch?

Die letzte Frage ließ sich leicht beantworten. Meine Eltern waren auf einem anderen Kontinent, arbeiten. Keiner der beiden hatte sich die Mühe gemacht Meetings zu verschieben.

Aber wieso ein Brief?

Ich klappte den Laptop mit meiner formulierten, aber nicht versendeten Mail an meine Mutter, zu. Während ich mir ein einfaches, bequemes Outfit in Form eines kurzen Baumwollrockes und eines feinen grauen Pullovers überzog, überlegte ich, ob es vielleicht besser war kein Wort über die Studentenverbindung zu verlieren.

Vielleicht hatte sie mir diesen handgeschriebenen Brief überreichen lassen, damit es keine elektronischen Beweise gab?

Ich betrachtete mich diesmal in dem größeren Spiegel, der auf der Innenseite meines Kleiderschrankes angebracht war.

Die letzten Jahre hatten mich zu einer kleinen Version meiner Mutter heranwachsen lassen. Die langen blonden Haare, die gerade Nase. Selbst die Farbe meiner braunen Augen. Ich machte mir einen einfachen Pferdeschwanz und steckte mein Handy in den Bund meines Rockes.

Ich wollte den Campus entdecken. Nur noch zwei Tage, bis die Vorlesungen losgingen und diese Orientierungstage würde ich definitiv nutzen müssen, selbst wenn mir die Angst nach wie vor im Nacken saß.

Draußen erwartete mich ein milder Herbsttag. Es hatte in der Nacht zuvor geregnet und ich schloss einen Moment meine Augen, weil mich die Klarheit der Luft beruhigte. So lange bis die Stimmen der anderen Studenten in mein Bewusstsein drangen. Trauben von Menschen spazierten an mir vorbei, als würde ich überhaupt nicht existieren. Etwas, woran ich gewohnt war als unscheinbare Person. Und was mir im Übrigen oftmals auch sehr gelegen kam.

Es hatte seine Vorteile, nicht aufzufallen.

Oxford war wie aus einem Bilderbuch entsprungen. Das perfekt gemähte Gras, die vielen Wege zwischen den Gebäuden. Der Duft der Natur und Gebäck oder Kaffee, wenn man an den vielen kleinen Ständen vorbeikam.

Studenten, die für ihre Ehrenämter noch Mitglieder suchten, riefen kreuz und quer über die Köpfe der Menschen hinweg. Ich fühlte mich, trotz des Trubels direkt wohl.

Obwohl mir eigentlich schon klar war, dass keine geheime Studentenverbindung in Form eines Standes links oder rechts neben mir auftauchen würde, scannte ich trotzdem jede Ecke und jeden Winkel nach dem Wort Samuin.

Ich hatte das Wort gegoogelt.

Es bedeutete Samhain. Die direkte Übersetzung wäre Vereinigung. Aber im Grunde war es der Begriff für ein Fest, an dem die Seelen der Toten geweiht werden. Eines von vier großen keltischen Festen.

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