Auf uns gestellt

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In meinem Zimmer wurde es langsam dunkel. Das Display meines Handys und Laptops waren die einzigen Lichtquellen.

»Es ist schwierig, offen zu reden. Kannst du das vorerst akzeptieren?«, sagte mein Vater gerade, während ich auf meinem Laptop das Wort Samhain in die Suchleiste meines Browsers eingab.

»Was dein Vater sagen will, June ... wir haben dir nicht aus reiner Bosheit verschwiegen, was wir sind. Es gibt für alles gute Gründe. Wichtig ist erstmal, dass du deinen Platz findest. Frei entscheidest. Lernst. Wir sehen uns spätestens nach Samhain, dann können wir reden.«

Ich sah mir die Bildersuche an. Zwischen Halloweenkürbissen, Monsterkostümen und sexy Hexenoutfits waren Steinkreise zu sehen. Lagerfeuer. Die traditionelle Seite des keltischen Festes.

Auf meinen Wangen trockneten nach und nach die Tränen. Stumme Tränen, die ich weinte, weil mich die Enttäuschung darüber, dass meine Eltern mir nichts erzählt hatten in den letzten neunzehn Jahren, so sehr verletzte. Und nun erwarteten sie, dass ich Verständnis hatte. Verständnis dafür, dass Oxford nun ein Ort war, an dem ich nicht nur für mein Studium lernen sollte. Sondern für mein Erbe.

»Du hast in deinem Brief nichts erwähnt. Wieso hast du mich nicht vorgewarnt? Ich wusste von gar nichts, Mum.«, sagte ich und schaute auf meine Hände. »Ihr wart nicht hier. Keiner von euch war hier! Sie haben uns einfach entführt und gefesselt. Sie wussten intime Dinge.«

Mein Vater seufzte und murmelte etwas, was ich nicht verstehen konnte. Natürlich störte ihn meine Verletzlichkeit. Er war schon immer rational – Gefühle verunsicherten ihn. Nervten ihn.

»Ich weiß, June. Ich weiß. Alberne dramatische Untermalungen. Das gehört manchmal dazu. Lass dich davon nicht verunsichern.«

»Verunsichern?«, fragte ich ungläubig. Das war alles so frustrierend. Verstanden sie nicht, wie ich mich fühlte?

»Wie haben eure Eltern es euch gesagt? Damals?«, wollte ich wissen. Einen Vergleich haben. Alaric und die anderen schienen mit ihrer Magie aufgewachsen zu sein. Sie konnten sich viele Jahre aufeinander einstellen. Viele kannten sich bereits durch den Zirkel von Kindestagen an.

Und ich? Ich wurde ausgeschlossen. Geheimgehalten. Ich hätte Freunde haben können. Ich wäre nicht so allein gewesen die letzten Jahre.

»Ich wusste es schon immer. Deinem Vater allerdings, dem ging es wie dir.«

»Wirklich?«, fragte ich und hätte am liebsten auch gefragt, ob es ihn so erschlagen hat.

»Ja, June. Und wie du siehst, hat es mir nicht geschadet. Ganz im Gegenteil.«

Kurzes Murmeln, welches ich wieder nicht verstand. Dann sagte mein Vater:

»Wir müssen los. Du schaffst das. Du bist unsere Tochter, du schaffst alles.«

Ich erinnerte mich an den Tag, als ich schwimmen lernte. Als mein Vater mich einfach losließ und ich wild mit den Armen rudernd, untertauchte. Voller Panik nach ihm schrie. Nach dem festen Griff, der mir immer Sicherheit gegeben hatte. Aber er ließ mich im Wasser strampeln, feuerte mich an. Bis seine Hände mich letztendlich doch packen mussten.

Ich hatte nie wieder einen Pool betreten, in dem ich nicht auch stehen konnte. War nie mehr geschwommen.

»Ich bin nicht wie ihr. Ihr hättet euch mehr bemühen und für mich da sein müssen.«

»June, wir-«

Aber ich legte auf.

Es war das erste Mal, das ich Widerworte gab. Das war zuvor noch nie vorgekommen. Ich war die Geheimnisse leid. Wir waren eine Familie und mein Verständnis davon war nicht, dass man sich ins offene Messer laufen ließ.

Ich klappte meinen Laptop zu und blickte auf mein Handy. In der Hoffnung, meine Mutter würde sich melden, aber minutenlang passierte nichts.

Also fasste ich einen Entschluss und schrieb Alaric.

Bist du wach?

Er antwortete binnen weniger Sekunden.

Es ist nicht mal 20 Uhr. Natürlich bin ich wach.

Kann ich vorbeikommen?

Ich bin noch nicht im Sinister Haus, treffen wir uns am Linacre College? Bin in der Nähe.

Okay, mache mich gleich auf dem Weg.

Der Campus fühlte sich lebendig an. Aus offenen Fenstern war Musik zu hören, lachen. Unterhaltungen. Die Antworten meiner Eltern wollten mir nicht aus dem Kopf gehen. Ich hatte vorgehabt ihnen von meinen Visionen zu erzählen. Von Nolan. Ich wollte wissen, was mich erwartete. Was bedeutete es eigentlich, Magie im Blut zu haben?

Meine Gedanken begleiteten mich bis zum Eingang des Linacre Colleges. So lebendig, wie das Zentrum vom Campus war, so einsam war es hier oben in der Nähe vom Cherwell River. Ich sah hin und wieder ein paar Jogger, aber ansonsten wartete ich die restlichen Minuten allein auf den Steintreppen, bevor Alarics Schritte zu hören waren.

»Entschuldige bitte, wartest du schon lange?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Alles okay?«, fragte Alaric und kam näher. Berührte mich aber nicht ungefragt, stattdessen griff ich nach seiner Hand.

»Danke, dass du mir Antworten gibst. Dass du mich nicht ausschließt.«

Er schwieg, aber drückte meine Hand leicht und dann umarmte Alaric mich.

Umarmt zu werden war ein unbeschreibliches Gefühl. Die Wärme und der Widerstand des Körpers. Ich schloss meine Augen und lehnte mein Gesicht an seine Schulter.

»Hast du mit deinen Eltern gesprochen?«, fragte er nach einer Weile und ich murmelte: »Ja, aber sie haben irgendwie nur Ausreden parat.«

Ich berichtete kurz wie das Telefonat gelaufen war und als wir uns aus der Umarmung lösten und langsam in Richtung Sinister Haus spazierten, erzählte ich außerdem von meiner Begegnung mit Nolan.

»Interessant.«, sagte Alaric nur und wirkte nachdenklich. Ich warf ihm von der Seite einen Blick zu.

»Hast du so etwas auch schon gehabt?«, wollte ich wissen und er nickte. »Hin und wieder. Aber meine Visionen zeigen oft die Zukunft. Das muss bei dir anders sein. Wieso sollte Nolan in Gefahr sein?«

Ich wusste es nicht.

Aber wusste anscheinend einfach gar nichts.

Im Sinister Haus angekommen, trafen wir zum Glück nicht auf Corbin oder Ophelia, sondern gingen einfach hoch in Alarics Apartment und setzten uns auf sein ungemachtes Bett.

Unsere Unterhaltung ging lange. So lange, dass ich irgendwann feststellte, dass ich unbedingt wieder in mein Wohnheim zurücksollte.

»Danke, dass ich mit dir reden kann.«, sagte ich und stand auf. »Danke, dass du dich mir anvertraust. Das bedeutet mir viel.« Er zögerte.

»Du bedeutest mir viel. Obwohl wir uns erst kennengelernt haben.«

Ich öffnete den Mund. Seine beiden Nachttischlampen waren an und warfen ihr warmes Licht auf ihn und mich.

In der Luft lag diese Spannung. Eine Spannung, die ich bisher nicht kannte, aber von der man wusste, was sie bedeutete.

»Ich...«, fing ich meinen Satz an, aber wusste nicht, wie ich ihn formulieren sollte. »Du?«, flüsterte Alaric. Er war näher gekommen. Wir sahen uns eine Weile an. Unsere Hände berührten sich.

»Ich weiß auch von diesen Sachen nichts, Alaric.«, sagte ich endlich. Wir verschränkten unsere Finger ineinander. Sein Ring drückte leicht gegen meine Knöchel. »Welchen Sachen, June?«, fragte er und küsste meinen Handrücken. Meinen Haaransatz und hob dann leicht mein Kinn.

»Diesen.«, war meine Antwort.

Und dann küsste ich ihn.

Was ich nicht sah, war, dass auf seinem Nachttisch, auf dem sein Handy lag, das Display aufleuchtete.

Eine Nachricht, die bis zu den Morgenstunden unbemerkt darauf wartete von Alaric gelesen zu werden:

Nolan ist raus.

Wir sind auf uns gestellt.

HonorboundWo Geschichten leben. Entdecke jetzt