Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Geschwister fertig waren. Und als ich mich anschließend wieder zwischen den Regalen heraus traute und die Bibliothek verließ, standen drei Studenten unweit vom Eingang entfernt. Alle drei schauten erst mich an und dann einander. Ich wusste nicht genau, warum, aber irgendwie überkam mich das Gefühl, dass zwei von dem Dreiergespann die Geschwister waren.
In einem kleinen Laden außerhalb vom Campus kaufte ich mir ein paar Snacks und Getränke. Es gab zwar drei Mahlzeiten pro Tag und auch einige Selbstbedienungskantinen, aber ich mochte das Gefühl, mein Zimmer nicht unbedingt verlassen zu müssen, nur weil ich Hunger hatte.
Meine unfreiwilligen Beobachtungen in der Radcliffe Library beschäftigten mich noch, als es bereits dunkel war. Vor meiner Zimmertür hörte ich Stimmen – Studenten, die sich bereits angefreundet hatten und abends Zeit miteinander verbrachten und vermutlich in eine Bar außerhalb vom Campus gingen, um gemeinsam auf eine gute Zeit hier in Oxford anzustoßen.
Ich war nicht besonders gesellig. Menschen mochten mich für gewöhnlich nicht, weil ich nie besonders viel zu sagen hatte und einfach eine langweilige Person war.
Aber ich muss zugeben, dass ich mich nach dem heutigen Tag einsam fühlte. Ich wollte jemandem von meiner Erfahrung berichten, von dem Brief meiner Mutter erzählen.
Am nächsten Tag machte ich mir einen Plan, was ich alles erkunden wollte, bevor übermorgen die Vorlesungen starten würden. Für mich stand fest, dass ich erstmal in keine der Bibliotheken mehr gehen wollte, bevor nicht offiziell alle Gebäude mit einer Vielzahl von Studenten gefüllt waren.
Ich spazierte also hinüber zur Dining Hall und suchte mir einen Platz aus, an dem ich frühstücken konnte. Die Auswahl an Essen war unbeschreiblich – ich entschied mich jedoch einfach für ein Rührei und etwas Orangensaft. Das erinnerte mich an meine Tante Abby und gab mir das Gefühl nicht ganz so allein zu sein.
Genau genommen, war ich nicht allein. Dutzende Studenten tummelten sich um mich herum und unterhielten sich. Über ihre Anreise, über ihre Zimmer. Über ihre Noten und ihr zukünftiges Studium.
Ich lauschte und war irgendwie ein Teil von ihnen. Als ich aufstand, um mich weiter auf dem Campus umzusehen, sagte sogar jemand, »Bis dann!«, zu mir und ich winkte der Gruppe freundlich zum Abschied entgegen.
Nach dem Frühstück ging es mir deutlich besser als gestern. Auch wenn es nach Regen aussah und sich der dichte Nebel, der heute Nacht zwischen die Gebäude gezogen war, nicht so wirklich lichten wollte.
Fast den gesamten Vormittag verbrachte ich damit, mir einzuprägen, wo ich morgen meine ersten Vorlesungen haben würde. Und die Vorfreude darüber, dass ich mich bald auf mein Studium konzentrieren konnte, lenkte mich von meiner Unsicherheit bezüglich der Studentenverbindung ab.
Es war fast schon Nachmittag, als ich leicht erschöpft auf mein Bett fiel und mich fragte, ob meine Eltern vielleicht heute mit mir telefonieren würden. Aber etliche Versuche später, bekam ich nur eine Nachricht von meinem Vater, dass sie sich melden, sobald sie wieder in London gelandet sind.
Ich seufzte und drehte mich auf die Seite. Ich konnte aus einem der beiden Fenster blicken und beobachtete die Blätter der Eiche vor meinem Wohnheim, die sachte im Wind wogen.
Zuhause war ich viel laufen gewesen, wenn mich die Einsamkeit überrollte. Die Natur gab mir immer das Gefühl, dass ich am Ende eben doch nicht allein war. Das Rascheln der Blätter, das Knacken der Äste und der Geruch von Erde und Pflanzen heilte mich – und so beschloss ich, mich in meine Joggingsachen zu schmeißen und joggen zu gehen.
Erst überlegte ich, den Weg durch die Trinity College Gardens zu nehmen, entschied mich aber dazu, eine weitere Strecke über die New Marston Meadows zu laufen.
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Honorbound
Mistério / Suspense[#angstober 2023] June ist Teil einer Studentenverbindung, in die sie dank ihrer reichen Eltern spielend leicht eintreten konnte. Als sie nach dem Initiationsritual bemerkt, dass etwas nicht stimmt, erfährt sie was wirklich hinter der Verbindung ste...