Der Fang

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Mir war nie bewusst, wie entfremdet ich von meinen Eltern war. Bis jetzt. Ich saß im Schneidersitz vor meinem Handy und starrte auf das spiegelglatte Display.

Irgendetwas hielt mich davon ab die Nummer meiner Mutter zu wählen. Wie sollte ich sie darauf ansprechen, dass wir einem geheimen Hexenzirkel angehörten? Wie stellte man so eine Frage?

Ich rieb mir meine Augen und legte mein Telefon beiseite. Morgen würden die Vorlesungen starten und mein größter Traum, nämlich Psychologin zu werden, und später einmal Gutachten für Gerichte zu schreiben, würde nach und nach immer näher rücken. Das bedeutete, dass ich fokussiert bleiben musste.

Der Tag verflog und nachdem ich vom Abendbrot zurück zum Wohnheim spazierte, sah ich wie Corbin und Alaric vor meinem Wohnheim auf mich warteten.

»Da ist sie ja!«, sagte Corbin, als hätte er mich gestern Abend nicht einfach ignoriert. Als wären wir alte Freunde.

Alaric blickte mich nur an und lächelte. Ich lächelte zurück und fragte: »Was gibt's? Noch eine Entführung?«

Corbin lachte übertrieben, aber antwortete dann in seinem gespielt charmanten Ton. »Heute nicht, Liebes. Wir wollten dich höchstpersönlich abholen und dich zu einer Versammlung einladen. Du hast doch nichts vor, oder?«

Ich schüttelte den Kopf und sagte lediglich: »Nur früh schlafen gehen, meine Vorlesungen beginnen um neun Uhr morgen früh.«

»Fleißig fleißig. Dann sehen wir uns um zehn Uhr nachher? Wir treffen uns an der Dining Hall vom Trinity College.«

Ich schaute zu Alaric und nickte langsam. »Okay. Ich werde da sein.«

»Perfekt, dann bis später.«

Corbin ging vor, aber Alaric blieb, wo er war. Schaute mich mit seinen hellblauen Augen an, musterte mich ungeniert. Mein langweiliges Outfit bestehend aus einem braunen Wollkleid und einer schwarzen Wollstrumpfhose mit passenden schwarzen Stiefeln.

»Du siehst sehr hübsch aus. Aber ich könnte mich auch daran gewöhnen, dich öfter in meinem Pullover zu sehen.«

Dann ging auch er und ließ mich mit rot gefärbten Wangen stehen. War das so gemeint, wie ich es aufgefasst hatte?

Mit weichen Knien ging ich auf mein Zimmer. Ich verbrachte, eine Stunde damit ein Outfit rauszusuchen, was irgendwie aufregender war als das, was ich die letzten Tage anhatte. Aber wenn ich an Audrey oder Ophelia dachte, konnte ich einfach nicht mithalten. Also entschied ich mich dafür, die Sachen anzubehalten, die ich auch schon beim Abendbrot getragen hatte.

Vielleicht konnte ich mit meiner neuen Kreditkarte einfach ein paar neue Sachen kaufen in den nächsten Tagen.

Es war bereits dunkel, als ich zum Trinity College spazierte. Die Dining Hall lag am äußeren Rand des Colleges. Ein langes Gebäude ohne Fenster auf der Außenseite.

»Pünktlich. Das gefällt mir.«

Corbin trat aus dem Schatten eines Baumes und kam auf mich zu. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Es war fünf vor zehn.

»Wo sind die anderen?«, wollte ich wissen und Corbin zuckte mit den Schultern. »Alaric ist sicher gleich hier. Und der Rest schon am Treffpunkt.«

»Ich dachte, das hier wäre unser Treffpunkt.«

Er grinste, so viel konnte ich sehen im Licht der Straßenlaterne.

»Nur für dich. Es kommt nicht oft vor, dass jemandem die Mutter der Nacht höchstpersönlich erscheint.«

Ich fragte mich, was das zu bedeuten hatte. Hatte er mich also extra hierher gelockt, um mir Fragen zu meiner Vision zu stellen, bevor das Treffen losging? »Wer ist die Mutter der Nacht eigentlich?«

Corbin kam näher, griff ungefragt eine meiner Haarsträhnen und antwortete leise. »Sie ist die Urmutter der Hexen. Die Frau, die Kinder in aller Welt gezeugt hat, damit wir uns vermehren. Damit Magie sich ausbreiten kann.«

Ich runzelte die Stirn, trat einen Schritt zurück, so dass mein Haar aus seinen Fingern glitt. Er schien überrascht und belustigt zugleich. Er bekam sicher nicht oft Ablehnung zu spüren.

»Audrey wird euch heute alles erklären. Sie ist schon ganz aufgeregt, dich kennenzulernen.« Das konnte ich nicht von mir behaupten und ließ diese Bemerkung einfach unkommentiert. Fast zeitgleich hörten wir Schritte und Corbin entfernte sich einen weiteren Schritt von mir weg. Als Alaric kam, sah es so aus, als wäre sein Freund mir nicht auf die Pelle gerückt.

»Na ihr beiden, was treibt ihr hier so allein im Dunkeln?«, scherzte er und Corbin antwortete: »Auf dich warten und Gedichte über dein seidig glänzendes Haar und deine funkelnden Augen formulieren.«

Gott sei Dank war es dunkel. Ich errötete augenblicklich.

Wir gingen schweigend nebeneinanderher, Corbin etwa einen Schritt voraus, weil er uns in die Richtung führte, aus der wir nach dem Initiationsritus kamen, doch im Dunklen kam mir hier nichts bekannt vor.

Hinter einem alten Bibliotheksgebäude, das früher einmal »Redshire Library« geheißen hatte, bogen wir auf einen Hof ein.

Dort war ein versteckter Zugang neben einer Mauer. Ein Symbol, das Corbin berührte und welches dann hell aufleuchtete. Die Mauer gab den Blick auf eine Steintreppe frei, die wir hintereinander betraten. Ungefähr ab der Hälfte hörte ich Stimmen. Einige lachten, es klang wie in der Kantine, in der ich frühstückte.

Lebendig.

Als wir unten ankamen, erkannte ich den Gewölbekeller sofort wieder. Der Weg hinaus war mir nach dem Erlebnis nicht mehr im Gedächtnis geblieben. Aber dieser Ort hier unten hatte sich in meine Erinnerungen gebrannt.

Es war ein runder Raum, mit den drei hinabsteigenden Treppen, die Mitte ganz unten, wo wir Rücken an Rücken gehockt hatten, war nun leer. Bis auf fünf Kerzen, die ihr warmes Licht auf die Runen warfen, die vor langer Zeit in den Stein gemeißelt worden waren.

Corbin ging direkt weiter zu seiner Schwester und den Freunden, mit denen sie sich unterhielt. Alaric blieb neben mir stehen und fing an zu erklären:

»Die beiden Studentinnen links von Audrey heißen Rachel und Adina. Sie studieren zusammen mit Audrey Jura und sind tief verwurzelt in Samuin.«

Und so hörte ich sämtliche Namen und Familiengeschichten, bis Alaric bei den Novizen ankam. Einer, den ich als Nolan wiedererkannte, blickte gerade in unsere Richtung. Das bemerkte auch Alaric. »Seine Familie ist nicht besonders hochangesehen. Sie versuchen seit Jahren Fuß zu fassen. Sein Vater macht allerdings schlechte Geschäfte und seine Mutter betäubt ihre Sorgen mit Medikamenten, was ihre Magie nahezu zerstört hat. Er kam nur durch die Auflösung seines Treuhandfonds hier rein. Sein Vater hofft, dass Nolan der Familie Delvaux zu neuem Glanz verhelfen wird.«

»Wieso muss man sich in den Zirkel kaufen?«, wollte ich wissen. »Wenn unser Blut magisch ist, dann sollte es uns zustehen, jederzeit einem Zirkel beizutreten, oder?« Alaric musterte mich, das bemerkte ich erst, als er nicht antwortete und ich zu ihm schaute. »Das sagen andere Zirkel ebenfalls. Aber ohne Geld kannst du kein System aufrechterhalten. Nicht mal einen Hexenzirkel.«

»Hm.«, machte ich und schaute zu Audrey Hawthorne, die nun die Treppen hinunter den Kreis abstieg. Sie stellte sich in die Mitte und hob ihre Arme empor.

Keiner der Anwesenden trug heute eine schwarze Kutte. Ich konnte zum ersten Mal all ihre Gesichter erkennen.

Audrey wirkte wie eine Göttin, als sie mit ihren Fingern das Feuer der Kerzenflammen emporschießen ließ und die Versammlung als eröffnet erklärte.

Das war erst das zweite Mal in meinem Leben, dass ich Magie gespürt hatte, und mein Körper reagierte darauf – fühlte sich hingezogen. Ich blickte zu den anderen Novizen und sah, dass es einigen von ihnen genauso ging.

»Fühlt sich gut an, oder?«, flüsterte Alaric und ich nickte.

Audreys Rede. Die Geschichte des Zirkels und die Magie – all das fing mich ein – wie ein Kescher einen Schmetterling einfing.

HonorboundWo Geschichten leben. Entdecke jetzt