Dunkle Tage

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Als ich aufwachte, wusste ich zunächst nicht, wieso ich direkt auf einen glitzernden Fluss blickte. Nach wenigen Sekunden realisierte ich allerdings, was letzte Nacht passiert war.

Die Schmerztablette hatte mich irgendwann so müde gemacht, dass ich wohl mitten in meiner Unterhaltung mit Alaric eingeschlafen war. Ich spürte seine Wärme hinter mir – nicht aufdringlich dicht, aber dennoch spürbar nahe.

Langsam drehte ich mich um. Er hatte seine Bettdecke zusammengerollt und zwischen uns gesteckt. Eine kleine Mauer des Anstands. Das rührte mich für einen Moment. Im nächsten fragte ich mich jedoch, ob er damit wirklich nur respektvoll sein, oder aber selbst nicht zu nahe an meinen Körper kommen wollte. Damit bei mir kein falscher Eindruck entstünde.

Er hatte mich getröstet, nachdem ich den anfänglichen Schock über den Zirkel verdaut hatte. Und die Tatsache, dass wir von Hexen abstammten. Dass es so etwas wie Hexen überhaupt gab.

Dass in meiner Familie jemand Magie beherrschen sollte, kam mir albern vor. Aber Alaric zeigte es mir. Er legte seine Hände auf meine und dann sah ich all die Dinge, die für mich fast zwei Jahrzehnte verborgen geblieben waren.

Wie er aufwuchs und spürte, dass er anders war. Genau das gleiche Gefühl, das ich auch erfahren hatte, als ich so alt war er.

Er erklärte mir, dass mit der Pubertät unsere Magie und die Hormone unseres Körpers miteinander kämpften – der Mensch gegen die Hexerei. Und er erzählte mir auch, dass Menschen das unterbewusst wahrnahmen. Sie mieden uns, obwohl es keine vernünftige Erklärung für sie gab. Der natürliche Instinkt der Menschen war über viele Jahrhunderte darauf trainiert worden, dass Hexen Gefahr bedeuteten, dass Magie nicht von der Natur vorgesehen war.

Und niemand aus meiner Familie hatte es für nötig erachtet, mir das zu sagen. Als ich mich nachts in den Schlaf geweint hatte, weil meine Freunde sich gegen mich verschworen, als meine Lehrerin, die mich immer unterstützte, mich plötzlich nicht mehr sehen wollte und mir keinen ihrer selbstgemachten Haferkekse mehr gab.

Meine Eltern haben geschwiegen.

Und ich war mit einer einzigen Frage auf den Lippen eingeschlafen und heute Morgen aufgewacht:

Warum?

Warum haben sie mich im Unklaren gelassen?

Alaric schlief noch. Ich beobachtete ihn, wie er da so lag, mit einem Arm über seinem Kopf und dem anderen angewinkelt auf seinem Bauch ruhend.

Sein Shirt war leicht nach oben geschoben und das Stück Haut zwischen seinem Hosenbund und dem Saum des Shirts ließ mich bereits meinen Kopf abwenden.

Noch nie hatte ich eine andere Person intim berührt. Sam hatte es mit mir probiert, aber über unschuldige Küsse oder Händchenhalten sind wir nie hinausgekommen – wie denn auch, wenn sein Körper spürte, dass wir nicht zusammengehörten.

Ich schaute auf den Cherwell River.

Ein paar Enten schwammen friedlich von links nach rechts und tauchten alle paar Zentimeter mit dem Kopf unter. So leise, wie ich konnte, befreite ich mich aus der zweiten Decke, die Alaric mir überlassen hatte, und legte sie sachte über seine Beine, dann stand ich vorsichtig auf und trat an die Fenster, um den Nebel und die Natur in Oxford zu beobachten.

Irgendwo zwischen den kleinen Türmchen und Dächern war mein Wohnheim. Dort lag mein Handy. Ich konnte es kaum abwarten meine Eltern anzurufen und sie zu fragen, wieso sie mir nicht die Wahrheit über unser Familienerbe gesagt hatten.

»June?«

Alaric war aufgewacht und streckte sich.

»Hi, entschuldige. Ich wollte dich nicht wecken.«

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