Bis zur Unkenntlichkeit

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Als am nächsten Morgen die Vorlesungen starteten, war ich mit meinen Gedanken noch bei Audrey und Samuin. Sie hatte uns erklärt, dass mit den Jahrhunderten unsere Blutlinien ausgedünnt waren. Dass die Magie der Familien schwächer wurde und teilweise nicht mal mehr sichtbar, nur noch untereinander spürbar.

Und sie hatte recht. Ich fühlte Alaric neben mir. Ich spürte die anderen um uns herum. Anders als man Menschen wahrnahm. Wenn ich genauer nachdachte, war mir das bei meinen Eltern immer aufgefallen – dass ich bei ihnen sein wollte. Nur schwer von ihnen getrennt sein konnte.

Gestern Nacht hatte ich viel gelernt.

Die Geschichte von Samuin ergab Sinn für mich. Die Positionen der Familien in der Gesellschaft. Dass wir uns untereinander verheirateten, um die Blutlinien zu stärken, damit die Magie wieder an Kraft gewinnen konnte.

Sie hatte außerdem erklärt, was die anderen Zirkel in Großbritannien für Ziele verfolgten und dass wir uns bis Samhain entscheiden mussten, ob wir wirklich zu Samuin gehören wollten. Denn dort würden wir an einem Ritual teilnehmen, das unsere Seelen miteinander verband – und dieser Eid ist bindend.

Für immer.

Ich wusste noch nicht, was ein magischer Eid bedeutete, aber es klang wichtiger als alles, was ich jemals entschieden hatte.

Ich lauschte meiner ersten Vorlesung. Und nachdem der Professor uns in die Geschichte der Psychologie mitnahm und uns erklärte, wie man eigentlich von angeketteten Patienten zu einer Psychotherapie kam, driftete ich immer weiter ab. Die Fragen in meinem Kopf häuften sich und ohne die fehlenden Antworten, blieb mir das große Ganze verborgen.

Mir fehlte so viel Zeit. So viel Wissen.

Ich blickte auf meine Hände. Dass mir die Mutter der Nacht erschienen war, war etwas Besonderes. Das meinte zumindest Audrey, als Alaric und ich nach der Versammlung zu ihr gingen. Sie war so etwas wie eine Zirkel-Führende in Oxford – als Tochter einer der Oberhäupter von Samuin.

Es gab drei führende Familien. Hawthorne, Blyton und Blake.

Ophelia war eine Blake, aber gehörte einem anderen Zirkel an, weil sie sich gegen einen Teil ihrer Familie gestellt hatte. Zusammen mit ihren Eltern war sie in Beltane. Ich dachte an ihre Worte. An den Blick. Sie hatte mich angesehen, als wäre sie enttäuscht gewesen. Nicht wütend, sondern einfach nur enttäuscht.

Am Ende war meine einzige Frage an Audrey, woher die Visionen kamen und wieso wir sie fast zeitgleich hatten.

Das war ein Phänomen der Zusammenkunft, so nannte sie es. Wenn die unterschiedlichen Familien zusammenkamen, löste das etwas in unserem Geist aus. Die Magie zeigte uns etwas aus der Vergangenheit. Meistens den Teil, von dem wir ursprünglich abstammten.

Viele der mächtigsten Magier sahen den Baum der Jaga. Ein Part an dem viele der Hexen gefoltert und aufgehangen wurden in den dunkelsten Zeiten der Hexengeschichte. Es gab Novizen, die nur neblige Träume hatten, kaum erwähnenswert. Ein Zeichen, dass ihr Blut schon so ausgedünnt war, dass es viele Jahrzehnte dauern würde, überhaupt selbst Magie praktizieren zu können.

Und dann gab es die wenigen unter uns, die die Mutter der Nacht sahen.

Eine Vision, die für unsere Blutlinien sprach – dafür, dass die Magie stärker wurde in unserer Familie.

Audrey hatte mich penibel genau nach dem Gefühl gefragt, das ich hatte. Nach den Händen. Den Runen. Die Stimme. Die Sprache. Alles. Von meiner Vision zu berichten war, als würde ich sie wieder erleben. Umrundet von den Kindern des größten Zirkels in Großbritannien war die Magie in meinem Blut erwacht.

Und ich mochte das Gefühl. Es veränderte mich.

Der erste Tag verging wie im Flug. Als ich bemerkte, wie um mich rum die Studenten zusammenpackten, schaute ich erschrocken auf meinen leeren Laptop Bildschirm.

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