'Der siebte Brunnen' ist einer der schönsten, kraftvollsten, tiefsten und radikalsten poetischen Texte in deutscher Sprache, die mir je begegnet sind. Er steht für mich auf gleicher Stufe wie Otfrieds wunderbare althochdeutsche Evangelien-Harmonie, Wolframs vielschichtiger Parzival, Goethes Hermann und Dorothea, Dürrenmatts Minotaurus, den fantastischen Erzählungen von Kafka und Anna Seghers, den raffinierten Gedichten Brechts und Ingeborg Bachmanns, Irmtraud Morgners Gauklerlegende, Bölls 'Wo warst du, Adam?' und 'Geschichte einer henkellosen Tasse' .
Es gibt noch eine ganze Reihe weitere wenig bekannte Schönheiten, an denen ich Gefallen gefunden habe: Etwa 'Caroline unterm Freiheitsbaum' von Brigitte Struzyk oder 'Das Wunschkind' von Ina Seidel, die wenig bekannte Jugend-Biographie von Theodor Fontane, 'Wilhelm Tell für die Schule' von Max Frisch, Ludwig Harigs Rousseau-Biographie, Wolfgang Hilbigs wilde Gedichte - aber ich schweife ab.
Und vor allem: Fred Wanders 7. Brunnen überragt sie alle. Denn er handelt vom Leben, von der Fülle des Lebens, vom Verschwinden von Leben und Fülle, von Würde und Tod. Nur 'Nacht' von Edgar Hilsenrath, 'Exil' von Lion Feuchtwanger und 'Die Fischmanns' von H. W. Katz reichen da heran. Vielleicht sollte ich noch 'Moskau' von Theodor Plivier hinzufügen.
Schönheit und Wahrheit:
Ich weiß, Schönheit ist Geschmackssache. Der ästhetisch gesehen schönste Roman des Mittelhochdeutschen ist Gottfried von Straßburgs 'Tristan und Isolde'. Er liest sich ungemein süffig. Ich habe die Lektüre enorm genossen, aber das Buch kein zweites Mal zur Hand genommen. Es gibt dort immense Mengen an poetischen und dramaturgischen Finessen. Aber was geht mich diese vertrackte Liebesgeschichte in einer überzüchteten, dekadenten Gesellschaftsschicht an, die schon zu den eigenen Gefühlen kaum eine Beziehung hat und noch viel weniger zu dem, was sonst auf dieser Welt noch kreucht und fleucht? Ähnlich geht es mir mit Thomas Manns 'Zauberberg' und 'Tod in Venedig'. Ästhetisch ein geradezu sündhafter Genuss, inhaltlich wenig nahrhaft.
Wenn ich also Fred Wanders 7. Brunnen lobe, sind findige Leser wahrscheinlich gewarnt. Denn dieses Buch ist nicht nur schön, sondern auch brutal. Fred Wander schildert anfangs die ganze Fülle des Lebens, die in einem französischen Internierungslager angeschwemmt wird, Menschen mitten aus dem Leben gerissen, schön, talentiert, stark, eigensinnig, voller Weisheit, Würde oder Lebenslust. Sie bringen unterschiedliche Tugenden, Eigenheiten und Erfahrungen mit. Wanders Ziel ist es, denen, die verloren gegangen sind, ein Denkmal zu setzen oder zumindest stellvertretend so vielen von ihnen, wie er in einem einzigen Text unterbringen kann. Er schildert ihren Charakter in kleinen Vignetten, kostbaren Erinnerungen, die ihn mit den Verschollenen verbinden.
Dann schildert er Mal um Mal, wie Fülle und Leben langsam verblassen oder plötzlich brutal vertrieben werden, während sie durch das Lagersystem der Deutschen wandern, bis am Ende nur der Blick des Überlebenden auf einen Haufen halb erfrorener Skelette bleibt, die sich dem Tod, dem sie nichts mehr entgegen setzen können, hingeben.
Paradoxerweise hat mich dieser ebenso schöne wie brutale Text zutiefst getröstet und mit dem Leben versöhnt, indem er den Menschen, die nicht überlebt haben, ihre Würde, ihr Gesicht, ihre Geschichte und ihre Bedeutung zurück gegeben hat. Ja, es ist ihm sogar gelungen, ihrem Tod zumindest eine poetische Würde zu verleihen.
Der andere Blick:
Nie zuvor ist mir bewusst geworden, wie wichtig es ist, dass Menschen nicht würdelos sterben und verscharrt werden, wie schädlich und gefährlich es ist für die gesamte Menschheit, wenn Menschen würdelos leben und sterben.
Und noch etwas verstehe ich erst jetzt, Jahre nachdem ich das Buch gelesen habe: Dies ist so ziemlich die einzige mir bekannte Darstellung des Weges, den die Menschen zurück gelegt haben, denen ich mein Leben verdanke.
Man verstehe mich nicht falsch. Es gibt jede Menge Biographien, Autobiografien und Roman-Biografien von Überlebenden. Ich habe Dutzende davon gelesen, von Holocaust-Überlebenden, Kriegs-Überlebenden, Hitler-Überlebenden. Erstere waren dabei in der Überzahl. Aber der Blick in 'Der siebte Brunnen' ist ein anderer.
Während sich unsere Wahrnehmung im Allgemeinen auf die Überlebenden verengt, wir ihren Weg aus einem normalen Umfeld durch das Tal der Tränen bis zur überfälligen Rettung verfolgen, bleiben die anderen schließlich als Randepisoden zurück und verlieren sich schließlich im Nebel der Vergangenheit. Dieser Blick ist ein darwinistischer Blick - 'survival of the fittest' - ein Hollywood-Blick oder klassischer Roman-Blick: Der Held, die Heldin im Vordergrund, deren Leben am Ende gerettet werden muss, damit die Geschichte ein gutes Ende findet, und die Fülle der Namenlosen, die unterwegs einfach unbetrauert untergehen. Dies ist nicht der Blick der Menschen, denen ich mein Leben verdanke.
Schuld des Überlebens:
Immer wieder ist mir die Aussage begegnet, dass diejenigen, die überlebt haben, nicht zwingend auch die Besten, Tugendhaftesten oder Liebenswertesten waren. Am deutlichsten habe ich dieses Urteil - auch über die eigene Person - von Viktor Frankl in seiner Autobiografie 'Trotzdem ja sagen zum Leben' in Erinnerung. Das heißt, etliche Überlebenden waren der Meinung, dass sie nicht überlebt haben, weil sie besser, schneller, klüger oder angepasster waren als andere, sondern weil eine Reihe glücklicher Umstände und Entscheidungen zusammen gekommen sind.
Mir sind etliche Geschichten begegnet, wo 2 Geschwister oder nahe Verwandte gemeinsam überlebt haben, die das einzeln wahrscheinlich nicht geschafft hätten. Andererseits haben herausragende Persönlichkeiten teilweise bewusst entschieden, zusammen mit Schutzbefohlenen in den Tod zu gehen, sind bewusst für andere gestorben oder hatten trotz all ihrer Fähigkeiten und Verdienste keine Chance.
Zukunfts-Vision:
Und dann gibt es etliche Geschichten, wo Menschen angetrieben von dem Gefühl 'Das kanns doch nicht gewesen sein', Lösungen gesucht und gefunden haben und auf helfende Hände gestoßen sind, die ihnen entgegen kamen. Menschen mit einer klaren Vision von einem Leben danach. Marcel Reich-Ramicki machte in seiner Autobiografie auf dieses Phänomen aufmerksam, indem er von der Begegnung mit einer anderen Überlebenden erzählte, die er im Warschauer Ghetto zuletzt gesehen hatte. Sie hatte unbedingt Tänzerin werden wollen - und ist es auch geworden. Er wollte Literatur-Kritiker werden - und ist es auch geworden. Beide waren sich einig, dass die entschiedene Vorstellung von einem Leben danach ihnen das Leben gerettet hat. 'Der Pianist' von Roman Polanski erzählt dieselbe Geschichte: Wer keine Vision von seinem Platz im Leben hat, geht unter.Die mir bekannten Beispiele sind oft nicht etwa Ärzte oder Ingenieure, sondern Künstler. Stellvertretend nenne ich hier einige: Marcel Reich-Ranicki und das Vorbild für Roman Polanskis - selbst ein Überlebender - Film 'Der Pianist', die Cellistin Anita Lasker-Wallfish, ihre Schwester und ein Cousin der beiden, der ebenfalls Musiker war, der Showmaster Hans Rosenthal und der Schauspieler Michael Degen, der übrigens einen virtuosen fantastischen Roman über Hitler geschrieben hat - aus meiner Sicht der intelligenteste Text über Hitler, den ich je gelesen habe. Der Titel heißt 'Blondi', denn offizielle Hauptfigur des Buches ist Hitlers Hund. Sarkastischer und treffender kann man die Sache nicht angehen.
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Die Fülle des Lebens
Non-FictionEigentlich wollte ich nur eine Mail schreiben. Doch die wurde zu lang und niemals abgeschickt. Ich wollte einem Bekannten, mit dem ich vor Monaten über Nachhaltigkeit und Entfremdung gesprochen hatte, berichten, welcher stetige Strom an Gedanken aus...