Es gab eine Planänderung.
Nicht das Jisung sich nicht freute im Außeneinsatz tätig zu sein, doch seine Gedanken kreisten um das Stück Leder, welches nun auf dem Weg ins Labor war, um von jemand anderem untersucht zu werden.
Und das ärgerte ihn maßlos.
Er kaute auf seiner Unterlippe herum, wobei er sich auf den Verkehr fokussierte. Es ging schleppend voran. Kein Wunder, es war Samstag Mittag die meisten Leute hatten ausgeschlafen und gingen ihren Plänen nach.
Einen Familienausflug hier, ein Geburtstagsessen da, oder andere normale Sachen, die auf Jisung und sein Team niemals zutreffen würde.
Sie unternahmen was und feierten Partys, keine Frage, aber die Unbeschwertheit eines Familienlebens würde sie nicht betreffen. Denn sie wussten, was sich da draußen verbarg. Sie wussten, dass in manchen Häusern Leichen lagen, die niemals gefunden werden würden. Dass in den Gärten außerhalb der Stadt hunderte Tote lagen, die keinen Namen besaßen. Dass die Unterwelt mit ihren Dämonen nicht das Schlimmste war, was diese Welt zu bieten hatte.
"Bist du nicht etwas zu alt zum Fahren?", tönte es von links, sodass der Vampir genervt die Augen verdrehte. Minho hatte sich seinen Koffer mit den Werkzeugen eines Leichenbeschauers auf den Schoß gelegt und blickte ihn grinsend an.
"Ich bin fünfundsiebzig und nicht tot."
Was nicht ganz stimmt, aber das musste er dem Braunhaarigen nicht erklären.
Vor Jahrtausenden fand ein Tropfen Sonnenlicht seinen Weg auf ihren Planeten, durchzog das Erdinnere wie Wurzeln, bis, Tage später, aus purem Zufall, ein Tropfen Mondlicht ebenfalls auf die Erdoberfläche schlug, sich begann durch das Innere zu graben, um letztlich mit dem Sonnenlicht zu kollidieren. Die Explosion, welche darausfolgte, war verherrend, jedoch nicht im negativen Sinne.
Menschen wandelten sich im Laufe der Jahrhunderte, sodass sie mittlerweile nur noch eine geringen Anteil der Weltbevölkerung ausmachten. Es entstanden Wesen mit den unterschiedlichsten Ausprägungen. Von schwarzen wie weißen Flügeln zu Hörnern, zugespitzten Ohren oder scharfkantigen Zähnen. Man unterteilte hierbei in Wesen der Nacht, welche sich aus dem Tropfen des Mondlichts gebildet hatten und den Wesen des Lichts, deren Ursprung durch das Sonnenlicht entstand. Doch selbst nach Jahrhunderten und Generationen der Wesen konnten oftmals nicht alle Merkmale eines Menschen in den verschiedenen magischen Wesen verschwinden. Jisung zum Beispiel, der als Vampir zur Welt gekommen war, was allein schon unerklärlich sein müsste, da in der Mythologie Vampire meistens erschaffen wurden. In ihrer Welt jedoch nicht. Er hatte einen Herzschlag und war trotzdem irgendwie tot. Er trank hauptsächlich Blut, dennoch blutete er aus seinem Körper. Die Wissenschaft konnte sich diese Sache bis heute nicht erklären. Es störte Jisung keineswegs. Irgendwie war er auch froh darüber nicht gänzlich den Zugang zu anderen Wesen verloren zu haben, wie es bei den Wesen aus der Hölle der Fall war.
"Aber fahren tust du wie ein Opa."
Jisung ignorierte den Wolf und konzentrierte sich darauf die richtige Abfahrt zu nehmen, um sie endlich an ihr Ziel zu bringen. Geschickt lenkte er den Wagen von der Autobahn und fuhr in eine ruhige Wohngegend hinein. Schon von Weitem konnte man den Tatort ausfindig machen. Blaue Lichter sperrten die Auffahrt des Wohnhauses ab und schlossen somit die Außenwelt aus. Jetzt ging es nur um sie und die Toten. Bevor sie ausstiegen, sammelte sich Jisung kurz. Einem Tatort, so oft sie schon einem begegnet waren, gehörte stets zu einer Sache, die einen Riss hinterließ. Es war die Unwirklichkeit dem direkten Tod gegenüber zu stehen und der Erkenntnis, dass einem sowas zu jederzeit ebenfalls passieren konnte.
"Bereit?", fragte Minho.
Jisung nickte.Die Yeong-Sus waren eine intakte fünfköpfige Familie gewesen. Mutter, Vater und drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen. Der ältere Junge war vierzehn, der Jüngere zwölf, das Mädchen fünf. Der Vater und die Söhne besaßen blondes Haar, die Mutter war brünett.
Jisung trat weiter in den Raum hinein, um das volle Ausmaß der Gewalttat zu erblicken. Der Esstisch war mittelgroß und aus dunklen, glattem Holz. Der oder die Täter hatten die Leichen der Mutter und des Vaters an die Schmalseiten des Tisches gesetzt. Die abgetrennten Köpfe lagen vor ihren Körpern auf einem Porzellanteller. Der Blick zur jeweiligen anderen Person gerichtet, was den Toten ein fremdartiges, unwirkliches Aussehen verlieh. Ein Anblick, der einen verfolgte, sobald man das Zimmer verließ. Mr und Mrs. Yeongsu hielten jeder eine Gabel und ein Messer in den mittlerweile steifen Händen.
"Silberbesteck."
Jisung zeigte auf die Gabeln ohne sie zu berühren.
"Für besondere Anlässe."
Minho trat näher an den Tisch, um das Besteck zu begutachten.
"Woher willst du das wissen?", fragte er und folgte dem Blick des Vampirs.
"In der Geschichte war Silber ausschließlich der gesellschaftlichen Elite vorbehalten. Zur damaligen Zeit war Silber ein teures Rohmaterial, was nur durch die fähigsten Schmiede gehandhabt werden konnte. Demzufolge stiegen die Kosten der Anschaffung, da es Handarbeit war und Zeit in Anspruch nahm. Durch die industrielle Fertigung wurde die Anschaffung von Tafelsilber auch für das Großbürgertum zugänglich, jedoch ausschließlich zu festlichen Anlässen genommen, um den Wert hochzuhalten und den Verschleiß zu vermeiden. Meistens gaben Familien das Tafelsilber als Erbstück weiter."
Einige Mitarbeiter der Spurensicherung hatte in ihrer Arbeit innegehalten, damit sie Jisungs Vortrag folgen konnten. Minho schüttelte nur den Kopf, auch wenn er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte.
"Ein einfaches: Man nutzt es für besondere Anlässe hätte mir gereicht."
Der Vampir plusterte die Wangen auf und fixierte den Wolf mit seinem künstlichen Auge.
"Du bist ja auch ein Kulturbanause und Geschichtsflegel!"
Die umstehenden Personen fingen an zu lachen, ehe sie sich wieder ihrer Arbeit widmeten.
Jisungs Auge schweifte zurück zu der Familie. Der oder die Killer haben die Leichen der Söhne einkleidet und der Länge nach auf den Tisch gelegt.
Und sie in der Mitte zersägt, sowie Arme und Beine fachmännisch entbeint.
"Sie müssen sehr hübsch gewesen sein"
Die Stimme des Vampirs war ganz leise.
"Ja", sagte Minho. Mehr nicht.
Einmal mehr war der Blonde froh, den Wolf an seiner Seite zu haben. Es war wir eine unsichtbare Abschirmung, die ihn von hinten umgab und Trost spendete.
Das Leid dieser Wesen muss unermesslich gewesen zu sein. Jisung fragte sich, ob die Kinder vor oder nach ihren Eltern getötet wurden. Hatten sie erlebt, wie man ihren Eltern die Köpfe abgesägt hatte? Oder mussten die Erwachsenen zusehen, wie man ihre minderjährigen Kinder erdrosselte und in Stücke portionierte?Die Jungen besaßen Haut wie Sahne, makellos, rein und unberührt. Doch nun spannte sich diese Haut unnatürlich über die hervorstehenden Knochen. Im Tod sahen die Lebenden seltsam schwer aus. Sie erinnerten Jisung an zwei liegenden Statuen, gemeißelt aus weißem Alabaster und zu erstarrter Perfektion poliert. Es schmerzte dem Vampir in seinem Herzen, wenn er daran dachte, was für wunderschöne Männer diese Jungen geworden wären.
"Wo ist der Leichnam des Mädchens?"
"In ihrem Bett. Sie wurde mit einem Kissen erstickt, und nein, bevor du fragst, der Mörder hat sie nicht nackt ausgezogen und verstümmelt."
Jisung kam der gleiche Gedanke, wie beim ersten Blick auf den Tatort.
Der Täter war kein Amateur.
"Also, wir haben hier unten vier Tote, eine fünfte liegt oben im Haus", zog Jisung eine Zwischenbilanz.
"Außerdem wurden die Morde ohne erkennbares Zögern verübt und der Tatort wurde bemerkenswert sauber zurückgelassen."
"Es sind nicht seine ersten Morde", sagte Minho und öffnete seinen Koffer.
Sie schwiegen eine Zeit lang, leisteten den Toten stumme Gesellschaft und dachten über die Worte des Wolfes nach. Es wäre schlimm, wenn er recht hätte. Ein irrer Gedanke schoss Jisung durch den Kopf. Zu bizarr, selbst für ihn, weshalb eisige Zapfen über sein Rückgrat tänzelten. Prüfend sah er sich um. Minho schien seine Aufgewecktheit bemerkt zu haben, denn er fragte ihn, was er dachte zu finden, wenn er so energisch suchte.
"Ich weiß, dass klingt unglaublich und es wäre ein enormer Zufall, aber was ist, wenn der Mord an Riko Yasushi mit diesem hier zusammenhängt?", erzählte er aufgeregt, während er vor Neugier fast platzte. Minho dachte einen Augenblick über das Gesagte nach. Auszuschließen war es nicht, aber es wäre schon ein starker Glücksfall. Selbst für Jisungs Gedankengänge, die oft ins Unnatürliche abdrifteten. Wie sollten diese ausgeklügelten Morde mit Riko Yasushi, deren Leichnam auf einem Friedhof gefunden wurde, zusammenhängen?
Es gab keinerlei Ähnlichkeiten.
"Ich habs!"
Minhos Augen weiteten sich vor Verblüffung. Jisung kam mit einem braunen Lederstück vor ihm zum Stehen, räusperte sich und strahlte, bevor er zu sprechen begann:"Wenn du mich auf die Seite legst, bin ich alles und für immer. Wenn du mich in zwei Hälften schneidest, bin ich nichts."
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Guten Abend, meine lieben Leser und! Einer neuer Dienstag, ein neues Kapitel, ein neuer Mord!
Was haltet Ihr von den Geschehnissen?
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Flair🌸🌿
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Enigma 《Minsung》
Fanfic-Pausiert- Erlaube deinen Wunden nicht, dich in eine Person zu verwandeln, die du nicht bist. ~Minho~ Teil 2 Fantasy Police AU Boy x Boy Don't like, Don't read Nebenpairs: Changlix HyunIN SeungChan