Im Dorfe

14 1 0
                                    

Das kleine Dorf am Waldesrand bot selbst in tiefster Nacht einen beschaulichen, ja geradezu romantischen Anblick. Die breiten, gepflasterten Straßen wurden vom sanften Lichtschein flackernder Laternen erhellt. Kleine, sich stark ähnelnde Fachwerkhäuser mit schneebedeckten Ziegeldächern und steinernen Treppen, die zu den Pforten führten, reihten sich geradlinig aneinander. Aus ihren Schornsteinen quollen dunkelgraue Rauchwolken zum Winterhimmel empor, während dicke Flocken stetig zur Erde herabfielen und das gesamte Dorf in ein reines, unberührtes Weiß hüllten.

In einigen wenigen, der kleinen, teils vereisten Fenster brannte trotz der späten Stunde noch immer Licht. Die Meisten jedoch waren in Dunkelheit getaucht. Sämtliche Türen und Tore waren fest verschlossen. Das gesamte Dorf wirkte, als wäre es im tiefen Schlaf versunken. Kein Mensch war mehr außerhalb seines Heimes anzutreffen. Eine friedliche Stille hatte sich über die kleine Ortschaft gelegt. Jene wurde lediglich vom leisen Rauschen eines aufkommenden Windstoßes und vom gelegentlichen Zwitschern eines vorlauten Vogels unterbrochen.

Nichts und niemand rührte sich, als der Engel lautlos durch die verschachtelten Straßen und engen Gassen wandelte. Er schritt sowohl am Hause des Schneiders, als auch am Hofe des Gastwirtes, am Stall des Kutschers und an der Werkstatt des Schmiedes unbemerkt vorüber, ohne dabei irgendeine bleibende Spur auf Erden zu hinterlassen. Als er zum Geschäft des Krämers gelangte, bemerkte ihn ein großer, brauner Hund und schlug sogleich an. Der Engel gab sich nicht lange mit dem Tier ab. Mit einer kurzen Handbewegung brachte er es auf der Stelle zum Schweigen, woraufhin der Hund sogleich in einen langen, tiefen Schlaf verfiel.

Nicht jeder vermochte es, einen Engel zu sehen, jedoch besaßen die meisten Tiere einen weitaus stärkeren Sinn für die Wahrheit als die Menschen es taten. Während der Mensch alles Übernatürliche absichtlich übersah und alles, was er sich nicht erklären konnte, als Aberglaube deklarierte, vertrauten die Tiere ihren Augen. Es verlangte ihnen nicht nach Verständnis. Sie benötigten keine Erklärungen für die sonderbaren Dinge, welche sich tagtäglich um ihnen herum ereigneten. Einzig der Mensch strebte, aufgrund seines angeborenen Intellekts stets nach der höchsten Erkenntnis, obgleich er wusste, dass auch sein Wissen auf ewig begrenzt bleiben würde.

Natürlich hätte der Engel die Macht der Unsichtbarkeit nutzen und sich auf diese Weise vor jedem lebendigen Wesen verbergen können, doch er hielt dies nicht vonnöten, denn seine Aufgabe war dieses Mal überaus einfach. Die einsame, dunkle Winternacht machte es ihm so leicht, dass es unsinnig wäre, seine Kräfte für dergleichen zu vergeuden. Drum übte er sich in Mäßigung.

Als er den Marktplatz erreichte, bemerkte er, dass im Hause des Schreibers noch immer ein helles, flackerndes Licht brannte. Unbemerkt trat er näher und blickte für einen kurzen Moment zum Fenster hinein.

Hinter der von Eissternen bedeckten Glasscheibe befand sich eine heruntergekommene Stube, welche von zahlreichen Kerzen ausgeleuchtet wurde. Die Holzwände waren kahl und rissig, und das kaum vorhandene Mobiliar wirkte, als könne es kaum mehr von Nutzen sein . Ein alter, gebrechlicher Mann saß an einem maroden Tisch und war offenbar trotz der späten Stunde noch immer bei der Arbeit. Sichtbar verzweifelt beugte er sich über die zahlreichen, kreuz und quer auf dem Tisch liegenden Schriftstücke, während er sich zugleich das graue, schüttere Haar raufte. In der rechten, leicht zitternden Hand hielt er eine schwarze Feder. Zahlreiche blaue Tintenflecken bedeckten sowohl den Tischen, als auch das beschriebene Papier und seine dürren Finger. Während er mit aller Macht versuchte, seine Texte fertigzustellen, zerrten Hunger und Müdigkeit an seinem ausgemergelten Körper. Er besaß große Geldsorgen und dank seiner Schlaflosigkeit und dem übermäßigen Genuss von Wein und Bier stand es auch um seine Gesundheit nicht zum Besten.

Der Engel spürte seine Not, doch lag es ihm fern, in das Schicksal einzugreifen. Es war nicht seine Aufgabe eine jede Seele zu retten. Außerdem wusste er bereits, dass für diesen Menschen jede Hilfe zu spät käme, denn ein Jünger des Todes hatte bereits seine schwarzen Krallen nach ihm ausgestreckt. Kein Mensch vermochte es, ihn zu sehen, doch vor einem Engelsauge konnte sich niemand verbergen. Sein Haar war so weiß, wie der feinste Sand, seine Lippen jedoch so rot, wie das schönste, lebendigste Blut auf der Welt. Gehüllt in ein seidenes, schwarzes Gewandt stand er in unheimlich wirkender Haltung hinter dem Schreiber, beobachtete ihn mit gehässigem Blick bei der Arbeit und würde wohl noch in dieser Nacht nach seinem Herzen greifen und es für alle Ewigkeit verstummen lassen.

Angel and DeathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt