In jener klaren Nacht, als diese kurze Geschichte ihren Anfang nahm, war es draußen bitterkalt. Der Winter herrschte über die friedliche Berglandschaft mit eiserner Macht. Droben am Himmelszelt leuchteten hunderte von Sternen auf, während unten auf Erden der Schnee beinahe magisch glitzerte. Mensch und Tier froren in dieser unerbittlichen Zeit, sowohl am helllichten Tage als auch in tiefster, dunkelster Nacht. Sie alle sehnten das Ende der strengen Wintermonate herbei, dabei lag die grausamste und erbarmungsloseste aller Zeiten - die Zeit der Rauhnächte erst noch vor ihnen.
Bäume, bedeckt von Eis und Schnee, erzitterten im Wind, während ein Engel lautlos durch den finsteren Nadelwald schritt. Er galt als Fremder in diesem Lande, was seine asiatischen Gesichtszüge nur allzu deutlich offenbarten. Sein Haar war so schwarz wie die Rinde der Bäume, seine Haut aber so blass wie der Nebel, seine Augen so blau wie die tiefste aller Lagunen und seine Kleider noch vieltausend mal weißer, als der glitzernde Schnee es je hätte sein können. Er war von geradem Wuchs, sehr groß und zugleich sehr schlank. Seine Wangen schimmerten ebenso wie seine Lippen in einem zarten Rosaton. Eine goldene Kette mit dem Symbol der Ewigkeit zierte seinen Hals und weiße Federn schmückten sein offenes Gewand. Darunter trug er nichts als ein dünnes Hemd, eine elegante Hose, welche nach unten hin immer weiter wurde und ein Paar goldene Stiefel. Er besaß weder Flügel noch einen Heiligenschein, war aber dennoch unschwer als ein Geschöpf der anderen Seite zu erkennen, denn seine Gestalt war von einer Aura aus Unschuld und Unnahbarkeit umgeben. Seine Schönheit sprach für sich, doch durfte kein Mensch ihn jemals berühren, denn die Perfektion eines Engels ging stets mit Unantastbarkeit einher.
Hoch erhobenen Hauptes folgte er einem breiten, von Bäumen gesäumten Pfad, welcher zum nächsten Dorfe führte. Die Kälte ließ ihn nicht frieren, der Wind ihn nicht erzittern und die Dunkelheit ihn nicht fürchten. Selbst Spuren hinterließ er keine, trotz des tiefen Schnees über welchen er hinwegschreiten musste. Mit einem Gemüt frei von Laster und Sorgen ging er dahin, ohne seiner eisigen Umgebung großartig Beachtung zu schenken. Er hatte einen Auftrag, ein Ziel, welches es zu erfüllen galt und nur dieses allein war für ihn von Bedeutung.
Um seinen Rumpf war eine elegante Tasche geschwungen, welche bei jedem seiner Schritte, aufgrund der an ihr befestigten, goldenen Glöckchen leise klirrte. Darin befand sich ein kleines Objekt, welches er zu überbringen hatte. Eine weiße Taube hatte ihn bei Einbruch der Dämmerung aufgesucht und, nachdem sie sich an der steinernen Vogeltränke in seinem Garten gestärkt hatte, ihm die Tasche mitsamt Inhalt übergeben. Dabei war eine kupferfarbene Karte gewesen mit folgenden filigranen Worten als Nachricht:
Erika Gruber
Fünf Jahre alt
Allein diese kurze Information genügte ihm, um wissen, was von ihm erwartet wurde. Treu ergeben befolgte er jegliche Anweisungen, die er in unregelmäßigen Abständen erhielt, ohne jemals unangebrachte Fragen zu stellen. Seit er denken konnte, übte er diese Berufung aus und war damit stets zufrieden gewesen. Ein Gefühl tiefer Verbundenheit durchströmte ihn bei jedem erfolgreich abgeschlossenen Auftrag und mehr als das benötigte er auch gar nicht als Entlohnung.
Hätte man den Engel gefragt, welche Nachteile diese Art von Existenz, welche er seit vielen, hundert Jahren führte, mit sich brachte, so wäre niemals auch nur ein einziges Wort der Klage über seine Lippen gedrungen, denn er kannte nur diese Art zu Leben. Er nannte ein bescheidenes Häuschen sein eigen, welches über neun Zimmer verfügte, die auf drei unterschiedlichen Stockwerken zu finden waren. Darum herum erstreckte sich ein wundervoller, fruchtbarer Garten mit einem Meer aus Blumen und einem kleinen Bach, der stets glasklares Wasser mit sich führte. Sein Heim glich einem Paradies, welches keine Wünsche offen ließ, doch die große, weite Welt hinter dem goldenen Zaun durfte der Engel nur dann betreten, wenn er einen neuen Auftrag erhielt und sich das magische Tor am Ende des steinernen Weges von selbst öffnete - eben so wie in dieser ach so kalten Dezembernacht.
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Angel and Death
FantastiqueTo the one who inspires me! Es war einmal ein Engel, welcher selbst in der heiligsten aller Nächte treu ergeben seine Pflicht erfüllte. Bereits seit vielen hundert Jahren übte er dieses Amt aus, ohne dabei jemals einen Fehler begangen zu haben Sein...