Im Zimmer

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Das Wohnzimmer war mit Abstand der größte Raum in der winzigen Wohnung. Es war nicht sonderlich breit, dafür aber in die Länge gezogen. Direkt neben der Tür auf einem kleinen, haselnussbraunen Schränkchen stand eine dreistöckige Weihnachtspyramide, auf welcher zuunterst Schafe mit ihrem Hirten, darüber eine königliche Familie mit einem goldenen Thron und zuoberst drei Engel mit weit ausgebreiteten Flügeln zu sehen waren. Dahinter war der Kachelofen zu finden, dessen wärmende Glut jedoch bereits vor Stunden erloschen war.

An der linken Wand stand eine große, dunkle Anbauwand, in deren Inneren einige Bücher, Geschirr, sowie auch der ein oder andere Räuchermann Platz gefunden hatten. In der hintersten Ecke war ein dreibeinigen Hocker aufgestellt worden, auf dem nunmehr ein magerer Weihnachtsbaum thronte. Dunkelblaue Schleifen, Gläserne Kugeln, liebevoll zubereitetes Gebäck und rote Wachskerzen zierten seine hageren Äste.

Das Fensterbrett wurde von einem großen Schwibbogen aus Holz geschmückt, der einige Bergmänner beim Verrichten ihrer Arbeit zeigte. Daneben führte eine schmale Tür zum verschneiten Balkon hinaus.

In der Mitte des Raumes war ein Tisch, welcher von einem Adventskranz geschmückt wurde. Dahinter auf der rechten Seite stand auf einem graubraunen Teppich ein altes, gemustertes Sofa. Darauf lag, in einer weichen Felldecke gehüllt, ein kleines, schlafendes Mädchen mit rosigen Wangen, langen Wimpern und braunen, schulterlangen Haaren.

Der Engel blieb in der Mitte des dunklen Zimmers stehen und breitete die Arme aus. Daraufhin entzündeten sich sämtliche, im Raum befindliche Kerzen von allein. Der Schwibbogen beleuchtete das Fenster, der Adventskranz zauberte Licht in das Antlitz des Mädchens, die Pyramide begann sich zu drehen und der Kachelofen verströmte eine angenehme Wärme.

'An diesem Ort also verbringt die kleine Familie ihre Freizeit', dachte der Engel bei sich. Er ging auf das Mädchen zu, um sie genauer zu betrachten. Friedlich lag sie da und träumte vermutlich von Wohlstand und Glück, denn ein sanftes Lächeln lag auf ihren schmalen Lippen.

Der Engel öffnete seine Tasche und holte den Gegenstand hervor, welchen er gemäß seines Auftrages zu überbringen hatte. Dabei handelte es sich um eine Porzellanpuppe, die ihrem äußeren Anschein nach zu urteilen, schon einige Abenteuer miterlebt hatte. Ihr goldenes, lockiges Haar hätte dringend einer Bürste bedurft. Ihr zierliches Gesicht war ebenso wie ihr adrettes Spitzenkleid teilweise von Kohle und Ruß geschwärzt. Einzig ihre graublauen Augen erstrahlten im Licht der flackernden Adventskerzen.

Vorsichtig platzierte der Engel die Puppe neben das schlafende Mädchen. Alsdann wandte er sich um und ging auf die Balkontüre zu. In dem Moment, als er das Zimmer verlassen und in die eisige Nacht hinaustreten wollte, öffnete das Mädchen plötzlich die Augen. Sofort richtete sie sich auf und blickte sich verwundert in dem nunmehr hell erleuchteten Zimmer um. "Vater?", fragte sie schlaftrunken, nahm jedoch gleich darauf die ansehnliche Gestalt des Engels war. "Wer bist du?", wünschte sie zu erfahren, während sie den Engel mit neugierigem Blick musterte.

Der Engel legte einen Finger auf seine Lippen, auf dass sie schwieg. Dann antwortete er mit glockenheller Stimme: "Dein Vater ist längst fort."

Sofort bildeten sich Tränen in den Augen des Kindes. Unbewusst ergriff sie die Puppe, welche der Engel ihr überbracht hat.

"Weine nicht. Er spürt nunmehr weder Schmerz noch Leid. Er weilt an einem schönen Ort, wo es ihm an nichts fehlen wird. Dies ist sein Abschied an dich."

Der Engel deutete auf die Puppe. Als das Mädchen jene erstmals bewusst wahrnahm weiteten sich ihre braunen Augen vor Überraschung. "Karina!", rief sie begeistert. "Ich dachte, sie wäre im Stollen verschüttet worden." Ihre Wiedersehensfreude war groß. Glücklich schloss sie das kleine Püppchen in ihre Arme und würde sie wohl sobald nicht mehr loslassen. "Ich habe Vater gesagt, er soll sie mitnehmen, damit sie ihm bei der Arbeit beschützt und er in der Dunkelheit nicht so alleine ist. Doch dann..."

"Es ist vergangen und lässt sich nicht mehr ändern. Dein Vater muss dem Ruf des Schicksals folgen. Es liegt jedoch an dir, weiter zu leben und die kommenden Tage zu nutzen. Sei stark und gib gut Acht auf deine Mutter."

Das Mädchen nickte entschlossen. "Vielen Dank, dass du sie mir zurückgebracht hast."

"So lautete sein letzter Wunsch", antwortete der Engel. "Und nun schlaf." Eine zarte Handbewegung sorgte dafür, dass das kleine Mädchen herzhaft gähnte und alsdann müde die Augen schloss. Sobald sie wieder eingeschlafen war, trat der Engel auf den schneebedeckten Balkon hinaus. Sein von Federn geschmücktes Gewand verwandelte sich plötzlich in zwei prächtige Flügel. Ein letztes Mal warf er einen Blick zurück durch das Wohnzimmerfenster und überzeugte sich davon, dass das Mädchen nunmehr wieder friedlich daniederlag. Sie würde sich an das Meiste bei Einbruch des Tages nicht mehr erinnern können und den Rest für einen wundersamen Traum halten. Die Puppe war das einzige Weihnachtsgeschenk, was sie erhalten würde, doch mehr als das hatte sie sich auch nicht gewünscht. Ihre zarten Händchen umklammerten glücklich das verrußte Püppchen, auf dass es ihr so schnell niemand mehr entreißen konnte. Ein tiefes Gefühl der Verbundenheit durchströmte den Engel. Er hatte seinen Auftrag erfüllt. Zufrieden breitete er die Flügel aus, erhob sich in die Lüfte und flog davon.

Er schwebte über das verschneite Dorf, über den einsamen Weg, über den hungrigen Wolf, welcher inzwischen einen Hasen gerissen hatte, hinweg und ließ alsdann den Nadelwald hinter sich. Er kam schnell voran. Binnen weniger Minuten hatte er das Reich der Menschen wieder verlassen und landete sanft wie eine Feder vor dem goldenen Tor. Seine Flügel schwanden zugunsten seines Umhanges, während er seinen Garten betrat. Hinter ihm schloss sich das magische Tor, bis dass er seinen nächsten Auftrag erhalten würde.

In einem der Fenster seines Hauses schimmerte seltsamerweise ein mattes Licht, dabei war er sich sicher, dass er keine Kerze hatte brennen lassen. In Erwartung eines unangekündigten Besuches betrat er die gute Stube, doch niemand war anwesend. Stattdessen ragte auf einmal ein großer, festlich geschmückter Weihnachtsbaum neben dem Kamin empor und verbreitete eine wohlig, warme Atmosphäre. Zu seinem Fuße befanden sich drei hübsch verpackte Geschenke. Darüber hinaus entdeckte er auf dem Sofa ein goldenes Heft - seine Beurteilung. Auf der ersten Seite stand lediglich ein Wort geschrieben:

Hervorragend

Der Engel ging in die Küche und bereitete sich zur Feier des Tages ein Kännchen Heiße Schokolade mit Zimt zu. Anschließend ließ er sich auf seinem Sessel in der guten Stube nieder und betrachtete eingehend die wundervoll geschmückte Tanne. Kleine Glöckchen und filigrane, rote Kugeln aus Glas zierten den Baum. Des Weiteren wurde er von vielen, kleinen Kerzen geschmückt, die allesamt fröhlich vor sich hin brannten, ohne dass ihr Wachs dabei schmolz. Als sein Blick auf die drei Geschenke fiel, welche er für seine gute Leistung erhalten hatte, zierte zum ersten Mal ein nur sehr selten vorkommendes Lächeln sein perfektes Antlitz. Selbst für einen Engel wie ihn war der heilige Abend eine ganz besondere Zeit. Zufrieden lehnte er sich zurück und genoss die letzten Minuten des 24. Dezembers.

Plötzlich, in dem Moment als die Mitternachtsglocken läuteten, ertönte ein Klopfen an seiner Tür. Der Engel erwartete keinen Besuch. Dennoch erhob er sich von seinem Platze neben dem Kachelofen, verließ das Wohnzimmer und öffnete alsdann die Haustür. Sein höflicher Willkommensgruß wurde von einem diabolischen Lächeln erwidert!

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Dies ist das vorletzte Kapitel meiner kleinen Geschichte. Das Ende werde ich pünktlich am nächsten Sonntag veröffentlichen. Ich wünsche euch allen einen schönen 4. Advent und frohe, besinnliche Weihnachten. Gehabt euch wohl.

Angel and DeathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt