Flucht

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Es ist kälter geworden.

Schneeflocken fallen wie die Bausche eines Wattestäbchens auf den Boden und auf kahle Äste der wenigen Bäume, die an der Seite der Straße stehen. Ich mochte diese Watte nie, Schnee eigentlich schon. Ich will nicht, dass der Winter beginnt. Ich will auch keinen Sommer, den sich immer alle in den kalten Jahreszeiten wünschen. 

Jahreszeiten. Nein, ich will auch keine Jahreszeiten. Keine Temperaturschwankungen spüren, keine warme Sonne auf der Haut fühlen. Am besten nichts fühlen. Ja, das wäre am praktischsten. Schade, dass man Gefühle nicht abschalten kann.

Der Rabe auf einem der Bäume kräht und ich schaue auf und bleibe stehen. Raben. Mit diesen Tieren könnte ich mich wahrscheinlich momentan sehr gut anfreunden. Gefürchtet und von allen missverstanden. So wie ich. Zumindest in letzter Zeit.

Er breitet seine Schwingen aus und hebt ab. Ich hoffe, ich werde mich auch so frei fühlen. Einfach schwerelos. An mir fährt ein Paar Scheinwerfer vorbei, ein schwarzes Auto, dessen Marke ich nicht ausmachen kann. Das tut auch nichts zur Sache, es ist nicht von Bedeutung. Was und wem darf man denn überhaupt Bedeutung schenken? Ich kann die Frage nicht beantworten.

Die Flocken sind schwächer geworden, nicht mehr Watte. Sie sind nur noch Staub, der vom leichten Wind durchwirbelt wird. Er legt sich auf meine Schultern, auf mein kaltes, bleiches Gesicht. Ich laufe über die Brücke, an deren Ende ein Auto steht. Meine Schritte beschleunigen sich, an dem schwarzen Ungetüm vorbei. Nicht jetzt. 

Ich ziehe mein Schal über mein Gesicht, bis zur Nasenspitze, die noch kälter als meine nackten Hände sind. Ich hätte flachere Schuhe anziehen sollen. Hinter mir öffnet sich eine Tür, die kurz darauf wieder zuschwingt. Langsame Schritte. Ich bleibe stehen. Er weiß genau, dass er mir nicht nachlaufen muss.

"Du kannst nicht ewig weglaufen." Da hat er leider recht. Eine Seltenheit. Ich muss ihm zustimmen. Meine Schultern spannen sich an, als ich mich langsam auf meinen viel zu dünnen Absätzen umdrehe. Er trägt seinen dunkelblauen Pullover. Seine Haare sind zerzaust, sein Blick undeutbar. Tausend Worte gehen mir durch den Kopf, aber keines von ihnen verlässt meine zu Eis gefrorenen Lippen. Ich erfriere, während ich Innerlich zu verbrennen scheine. Ich atme tief die klirrende Kälte ein und meine Brust sticht, bevor ich mich entschließe. Ich ziehe den Schal von meinem Gesicht als ich sicheren Schrittes auf ihn zugehe.  

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