Kapitel 3: Wintereinbruch - Familie Pinecone | 23.12., morgens

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Dichter, grauer Nebel lag über den Hügeln bei Lamberton. Durch die Schlaglöcher und über die Bruchstellen der Küstenstraße hoch im Norden Englands – kurz hinter der schottischen Grenze – schlingerte ein vollbepackter Van. Das Licht seiner Scheinwerfer drang kaum einige Meter weit, während die Scheibenwischer hektisch gegen ein Gemisch aus Regentropfen und Schneeflocken ankämpften.

Auf der Rückbank zog sich Mary ihren Mantel enger um die Schultern und rieb sich die kalten Hände. „Ist die Heizung ausgefallen, Papa?" „Konzentrier' dich aufs Fahren, Fred", mahnte ihre Mutter Rose und begann auf dem Beifahrersitz die Lüftungsschalter nacheinander zu betätigen. „Scheint ganz so", stellte sie fest. „Aber es sollte nicht mehr weit sein."
„Mir ist kalt", maulte Mary. „Sei nicht so eine Memme", frotzelte ihr kleiner Bruder von rechts und knuffte sie in die Seite. Mary sah ihn böse an: „Ist ja nicht so, als hätte ich nichts Besseres zu tun, als zwei Tage vor Weihnachten in die Einöde zu fahren, um zum Haus einer Großtante zu fahren, die keiner von uns kannte."
„Hättest ja zu Hause bleiben können", Alfie zuckte die Schultern. „Aber bist du nicht gespannt herauszufinden, welche dunklen Geheimnisse unser Großtantchen hatte?" „Kein bisschen." Mary rümpfte die Nase: „Wahrscheinlich finden wir nichts als alte Wäsche und ein paar Ratte – falls das Haus selbst nicht schon in sich zusammengefallen ist."
„Mary", mahnte sie ihre Mutter sanft.
Mary stöhnte. „Keine Ahnung, was ihr euch davon erhofft. Anstatt euch die Mühe zu machen, her zu fahren, hättet ihr es doch direkt verkaufen können." „Wir wissen doch gar nicht, was die Bude wert ist", Alfie rüttelte sie aufgekratzt an der Schulter. „Stell dir vor, wir finden einen unterirdischen Keller oder so!"
Ihr Bruder war ein kleiner Nerd, was das Erkunden von abgelegenen Orten anging. In der Schule hatte er Freunde, mit denen er am Wochenende mit Metalldetektoren ausschwärmte und nach Lost Places suchte. „Also ich säße jetzt lieber bei einem warmen Frühstück vor einem Tannenbaum, der darauf wartet, geschmückt zu werden."
„Schatz, ich kann dich ja verstehen", meldete sich ihr Vater von vorne zu Wort. „Aber eure Mama und ich haben dieses Jahr nun mal keinen Urlaub mehr nehmen können, deshalb haben wir nur das lange Wochenende, um uns das Haus anzusehen und zu entscheiden, ob wir es verkaufen oder... " „Oder was?", Mary richtete sich ungläubig auf der Sitzbank auf. „Ihr überlegt doch nicht im Ernst, das gegen unsere Wohnung einzutauschen?"
„Nein, nein. Aber wenn es dort nett ist, könnten wir es vielleicht als Ferienhaus nutzen und vermieten." „Pff", machte sie. Als sie ihr Handy aus dem Mantel zog, hatte sie natürlich keinen Empfang – wie bereits seit einer halben Stunde. Jetzt konnte sie sich noch nicht einmal weniger langweilen oder sich bei ihrer Freundin Tatjana über den hirnrissigen Wochenendtrip auslassen.
„Da!", plötzlich zeigte Alfie aus dem Fenster. Aus dem Nebel schälten sich die schemenhaften Umrisse eines Gebäudes. „Meint ihr nicht, dass könnte es sein?"

Nachdem Fred den Van geparkt hatte, stieg die Familie aus, um das Anwesen näher in Augenschein zu nehmen. Man hatte ihnen zwar eine Adresse gegeben, aber da auch das GPS-Signal hier nicht das Beste war, ließ sich nur ungefähr erahnen, wo das Haus ihrer verstorbenen Großtante zu finden war. Lag Alfie allerdings mit seiner Vermutung richtig, handelte es sich bei dem ehemaligen Zuhause ihrer Verwandten um ein ganzes Herrenhaus.
Vor einigen Wochen hatte es die Mutter von Mary und Alfie überraschend geerbt. Alles, was Rose über ihre Tante wusste, beruhte auf Erzählungen ihrer seit einigen Jahren verstorbenen Mutter:
Erst hatten sich die Schwestern aus den Augen verloren und als Jane – die besagte Tante – mit ihrem seltsamen Mann in das Anwesen bei Lamberton gezogen war, hatte sie für über zwanzig Jahre den Kontakt zu Rose' Mutter Alva abgebrochen. Nachdem Janes Mann dann unter mysteriösen Umständen verschwunden war (Jane weigerte sich, über seinen Verbleib zu sprechen), hatten die Schwestern nach über zwanzig Jahren wohl wieder hin und wieder telefoniert. Doch laut Alva war Jane bei ihren Gesprächen zum Schluss immer schrulliger und eigentümlicher geworden.
Kein Wunder, dachte Mary. Als ihr Vater es aufschob, gaben die Scharniere des eisernen Eingangstores ein nervtötendes Quietschen von sich.
Alles an der äußeren Erscheinung des alten Herrenhauses und des umliegenden Grundstücks wirkte schroff und heruntergekommen. Inmitten des steinernen Vorplatzes befand sich ein Springbrunnen, der teilweise eingestürzt war und mit den hässlichen Fratzen der Wasserspeier nicht gerade zum Verweilen einlud; die Fenster der äußeren Flügel des Hauses waren mit Brettern verbarrikadiert und ein Stück des linken Dachstuhls schien zu fehlen – oder vielmehr schien dort ein Kaminschacht in sich zusammengefallen zu sein und ein Loch ins Dach gerissen zu haben.
„Was für eine Bruchbude", platzte es aus Mary heraus. Das konnte kaum etwas mit dem zu tun haben, was sich ihre Eltern unter einem Ferienhaus übers Wochenende oder gar zum Vermieten vorgestellt hatten.
Obwohl ihre Mutter ihr nicht so offensichtlich Recht geben zu wollen schien, kratzte sich Alva an der Stirn: „Jane ist das wohl alles etwas über den Kopf gewachsen..." Sie ging zum Eingang und nahm neben der doppelflügeligen Tür das schiefe Bleischild, auf dem Name und Hausnummer eingestanzt waren, vom Haken. „Aber die Adresse stimmt."
Im Gegensatz zu allen anderen schien Alfie nach wie vor begeistert „Boah... - Und das gehört jetzt alles uns? Einfach so?"
Fred brummte etwas wie „Freu dich nicht zu früh" und machte sich daran, das Haus mit dem Schlüssel aufzuschließen, den sie vom Notar bekommen hatten. „Also, Kinder. Wir gehen da jetzt erstmal zusammen durch, in Ordnung? Es war schon lange keiner mehr hier, denken wir, daher könnte uns alles Mögliche erwarten."
Mary zog eine Grimasse: „Aber ihr habt euch hoffentlich schon dazu entschieden, dass wir heute definitiv wieder nach Hause fahren, oder?" Alva seufzte: „Wenn du das so unbedingt willst..." „Komm schon, Mama! Ich will morgen nicht mit Erfrierungen aufwachen."
„Lass uns doch erstmal reingehen", quengelte Alfie.

Advent, Advent - Die Feder brennt! Vol. I: Fluch und Segen.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt