Herr Pastell hatte lange Zeit darauf verwendet, das Vertrauen seiner Therapeuten zu gewinnen. Heute sollten seine Anstrengungen zum ersten Mal greifbare Früchte tragen. Das Weißlicht aus den Neonröhren über ihnen flackerte ein wenig, als sein erster und längster Therapeut ihm gegenüber Platz nahm. Er hatte außerhalb der Reihe einen Termin mit ihm vereinbart. „Sie haben große Fortschritte gemacht, Herr Pastell. Das ist etwas, was nicht viele schaffen", war das Erste, was der Therapeut zu ihm sagte. „Sie können stolz auf sich sein."
Herr Pastell nickte und lächelte. Der Therapeut lächelte zurück. Das hatte er bislang nie getan. „Ich habe gute Nachrichten für Sie. – Ihnen wurde der Weihnachtsausgang bewilligt." „Dann soll es bis dahin schneien. Ich habe eine Idee für ein Kunstwerk, das dort besonders gut zur Geltung kommen würde."
„Die Chancen stehen gut", meinte der Mann, während er rasch etwas auf dem Bogen in seinem Klemmbrett vermerkte. Herr Pastell runzelte die Stirn. „Wollen Sie mich nicht anschauen, wenn ich mit Ihnen rede?"
Der Therapeut sah überrascht auf. „Natürlich. Entschuldigen Sie. Aber Sie wissen ja, ich muss..."
Herr Pastell winkte ab, lehnte sich in dem Plastikstuhl zurück und starrte an die weiße Decke. Die klinische Reinheit der Forensik war eine Zumutung für seine künstlerische Ader und seine Liebe zu Farben. Sein Name – Pastell – täuschte über seine Vorlieben hinweg. Nicht die seichten Töne waren es, die seinen Blick erregten, sondern die kräftigen, von denen es in der Anstalt kaum welche zu finden gab – erst recht nicht in dunkelblau, -grau und rot. Alles Farben, die früher auf seiner Palette nicht fehlen durften.
Im Zuge seines unfreiwilligen Aufenthaltes hier hatte er das Malen pausiert. Er hielt es zwar für einen Verlust, seine Werke der Welt nicht zur Schau zu stellen, aber er hatte herausgefunden, dass sie die zartbesaiteten Leute erschreckten. Sie bewirkten, dass sich die meisten ihm gegenüber abweisender verhielten. Und das war unvorteilhaft, da er hier drin auf soziale Kontakte angewiesen war, um sich nicht zu Tode zu langweilen.
Doch inzwischen bluteten seine Augen von der Eintönigkeit, die ihn umgab. An den Schwarz-Weißmustern hatte er sich längst satt gesehen. Es wurde also Zeit zu gehen. Und der Therapeut hatte ihm gerade dafür den Schlüssel überreicht, wenigstens verbal.
„Haben Sie die Bewilligung schriftlich?", fragte Herr Pastell.
„Bitte sehr. Hier ist eine Kopie."
Herr Pastell überflog das Formular und begutachtete die Unterschriften. „Hier steht: In Begleitung von zwei Mitarbeitern, davon ein Sicherheitsgeschulter. Sind Sie sich sicher, dass das notwendig ist?" „Nun ja, es ist Ihr erster richtiger Ausgang. Da gibt es Vorschriften und Lockerungsstufen. Schauen wir doch erst einmal, wie es funktioniert, Herr Pastell, und dann sehen wir weiter."
„In Ordnung." „Sie müssen diesen Ausgang als Vertrauensbeweis verstehen. Für uns bedeutet es, dass Sie so gut mit uns zusammengearbeitet haben, dass wir uns sicherer sein können das Risiko, das von Ihnen ausgeht, einzuschätzen."
„Ich habe Erfolge in meiner Impulskontrolle erzielt." „Da haben Sie Recht, Herr Pastell. Nichtsdestotrotz gibt es noch viel zu tun. Schließlich haben Sie selbst gesagt, dass Sie der Ausprägung Ihrer dissozialen Persönlichkeitsstörung zum Trotz der Erste unserer Patienten sein werden, die sich vollständig resozialisieren."
„Sie können ruhig sagen, dass ich ein Psychopath bin", Herr Pastell beugte sich ein wenig vor, um Vertraulichkeit zu signalisieren. „Wie heißt es noch gleich? ... Ah. Man soll das Kind beim Namen nennen. Und ich bin doch jetzt so etwas wie Ihr Kind, oder?"
„Nun ja, Herr Pastell. Ich denke, das trifft es wohl nicht ganz. Sie sind kein Kind. Sie müssen Verantwortung für Ihr Handeln übernehmen – und das lernen Sie unter anderem mit mir." Der Therapeut räusperte sich. „Und genau deshalb bekommen Sie heute noch eine Aufgabe von mir. Wenn Sie sich darauf einlassen, können Sie sie sicher mit Bravour lösen."
„Und was ist das für eine Aufgabe?"
„Sie schreiben einen Wunschzettel. Es mag sich banal anhören." „Oder kindisch", warf Herr Pastell ein. Der Therapeut nickte unbekümmert. Herr Pastell fragte sich, ob er seinen Witz nicht verstanden hatte oder nicht verstehen wollte und merkte, dass leichter Groll in ihm emporstieg. Aber dann legte er seine beiden Hände auf die Bewilligung, die er vor sich auf den Tisch gelegt hatte und entschied sich gegen einen gehässigen Kommentar.
„Jedenfalls möchte ich Sie bitten, den Wunschzettel auszufüllen mit Dingen, die Sie gerne auf Ihrem Ausgang erreichen möchten. Adressieren Sie den Zettel an jemanden: Es kann der Weihnachtsmann sein, das Jesuskind oder irgendjemand anderes, den Sie nicht persönlich kennen. Überlegen Sie, wie er oder sie Ihnen helfen könnte – und formulieren Sie Ihre Bitten. Denken Sie daran, man ist Ihnen nichts schuldig. Und anschließend schreiben Sie auf, was Sie Ihrem Gegenüber entgegenbringen – wie helfen Sie mit, dass Ihr Vorhaben gelingt?" Der Therapeut reichte ihm ein vorbedrucktes Papier – mit einigen überflüssigen Schnörkeln und Verzierungen in den Ecken. „Ihren Zettel bringen Sie ausgefüllt zu unserer nächsten Sitzung mit. Wir sprechen darüber – und noch einmal, wenn Sie von Ihrem Ausgang zurück sind."
„Ein vernünftiger Plan", meinte Herr Pastell. Das „Wenn Sie wüssten...", das dachte er nur.
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Advent, Advent - Die Feder brennt! Vol. I: Fluch und Segen.
Storie breviEs weihnachtet sehr! Aber wo, wann und wie? Communitytime auf Instagram und Facebook - Eure Kommentare bestimmen den Verlauf der Geschichte und worum es geht - fortlaufend wird alles eingebunden! - Wird's wild oder schnuckelig? Lassen wir uns überra...