11 - Lee Know

155 16 4
                                    

Kapitel 11 - Lee Know

November 2019

Es herrschte drückende Stille im Dorm. Obwohl der Fernseher im Wohnzimmer lief und sich IN und Seungmin leise unterhielten, hatte ich das Gefühl, jeden Moment eine Nadel fallen zu hören. Oder lag es nur an mir?
Es war seltsam. Ungewohnt. Weg war die Leichtigkeit, die sonst in diesen Wänden lebte. Etwas lastete auf uns, auf der Wohnung, was die allgemeine Stimmung drückte, obwohl es sich keiner von uns anmerken lassen wollte.

Tief seufzend holte ich ein größeres Messer aus der Schublade und zog mir das Fleisch heran, um es in kleine Stücke zu schneiden.
Dieses Gefühl hielt bereits seit Wochen an und ich konnte nichts dagegen tun. Kochen war momentan eins der wenigen Dinge, auf die ich mich ausreichend konzentrieren konnte, um wenigstens für eine kurze Zeit etwas ruhiger zu werden - und die Sorgen nur für eine Weile nicht mehr so schwer auf meinen Schultern zu spüren.
Denn das war es, was die Stimmung von uns allen so beeinflusste: Sorge.
Han ging es nicht gut. Schon seit Monaten.
Anfangs hatte er sich nichts anmerken lassen, hatte wie gewohnt am Training und den Auftritten teilgenommen, obwohl bereits zu dem Zeitpunkt spürbar gewesen war, dass sich irgendetwas verändert hatte. Doch er hatte sämtliche Nachfragen mit einem Lächeln abgetan und weitergemacht.

Inzwischen wussten wir, was in ihm vorging. Oder erahnten es zumindest.
Schon seit unserer Trainee-Zeit hatte Han immer wieder mit Panikattacken und Angstschüben zu kämpfen, besonders wenn seine mentale Verfassung nicht stabil war. Große Menschenmengen, laute Geräusche, nicht einsehbare Situationen raubten ihm den Atem und lähmten ihn.
Zwar hatte er es in den letzten Jahren einigermaßen im Griff gehabt, irgendwie hatte es immer funktioniert, doch nun holte ihn dieses Verdrängen ein.
Je erfolgreicher wir wurden, desto mehr Druck lastete auf uns. Als er nach einem Auftritt zitternd zusammenbrach, weinend und kaum fähig, sich auszudrücken, waren wir alle schockiert. Im ersten Moment hatte wohl keiner von uns so recht verstanden, was vor sich ging. Hilflosigkeit machte sich breit.
Erst nach und nach hatten wir begriffen, obwohl ich bezweifelte, dass je einer von uns wirklich nachempfinden konnte, welche Ängste Han durchstand. Das tat weh. Und die Hilflosigkeit blieb. Wir konnten nicht viel für ihn tun, außer für ihn da zu sein, wenn er uns brauchte. Den Rest mussten wir den Psychologen überlassen.
Doch es war so hart und es schmerzte ihn so zu sehen.

Das Fleisch gab ein lautes Zischen von sich, als ich es zusammen mit dem Gemüse in die Pfanne gab. Gedankenverloren machte ich mich an den nächsten Arbeitsschritt, während das Fleisch munter vor sich hin brutzelte.

Ich wollte ihm helfen, für ihn da sein, etwas tun. Irgendetwas.
Zu gern wollte ich ihm immer und immer wieder versichern, dass er keine Last war.
Dass keiner von uns ihn allein und zurücklassen würde.
Dass das Gefühl, nicht genügen zu können, unbegründet war.
Doch ich konnte nur unfähig danebenstehen, während er in seinen negativen Gedanken versank.
Es hatte in den letzten Wochen nur selten Momente gegeben, in denen er ansatzweise offen mit uns sprach. I.N war mit dem Einverständnis von Han momentan zu Chan, Felix und Changbin gezogen, um ihm noch mehr Ruhe zu gönnen und damit er nicht das Gefühl hatte, unter Beobachtung zu stehen. Wobei ich mir nicht sicher war, ob diese Ruhe nicht vielmehr das quälende Gefühl der Einsamkeit verstärkte.
Umso öfter versuchte ich Han nun Gesellschaft zu leisten - also wenn er es wollte, was nicht immer der Fall war.

Dass es ihm nicht gut ging, war mittlerweile auch bis zu unseren Fans durchgedrungen. Spätestens nachdem bekannt gegeben werden musste, dass Han vorerst an keinen Auftritten teilnehmen würde. Von Menschenmengen, die uns unangenehm nahe kamen, umringt zu sein, wäre in seiner Situation definitiv kontraproduktiv.
Es ließ sich erahnen, wie sehr ihn das Ganze zusätzlich belastete. Er wollte niemandem Sorgen bereiten, wollte für die Fans da sein, immer das Beste geben - nur ließ seine Verfassung nichts davon zu.
Es war einfach... scheiße.

*

Leise klopfte ich an die geschlossene Zimmertür und wartete einige Herzschläge lang. Nichts rührte sich. Wahrscheinlich schlief er.
Schweren Schrittes ging ich zurück in den Wohnraum, wo die anderen bereits am Tisch saßen. Die Gespräche wurden unterbrochen, fragende Blicke trafen mich.
Ich mühte mir ein schmales Lächeln ab, um besonders die Jüngeren nicht noch mehr zu beunruhigen.
„Er schläft. Ich werde ihm das Essen einfach reinstellen, es schmeckt schließlich auch kalt."
Ich versuchte meiner Stimme einen unbeschwerten Klang zu verleihen, während ich etwas umständlich eine der Schüsseln und das Besteck von der Anrichte nahm.
„Warte." Sofort machte Chan Anstalten aufzuspringen. "Ich helf dir."
„Danke, es geht schon", entgegnete ich. „Fangt ruhig schon mal an."
Ich sah an, wie wenig glücklich Chan darüber war. Er saß sehr ungern untätig rum. Doch ich schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.
„Nächstes Mal spielst du Essenslieferant."

*

In Hanies Zimmer war es dunkel, bis auf den schmalen Lichtstreifen, der sich durch einen kleinen Spalt zwischen den Vorhängen mogelte.
Ich ließ die Tür vorerst offen, um nicht aus Versehen über Kleidung, Bücher oder was auch immer sich da auf dem Boden verteilte, zu stolpern, während ich das Essen vorsichtig Richtung Tisch balancierte. Han lebte schon immer im Chaos, jetzt noch mehr. Vielleicht würde ich hier demnächst mit seinem Einverständnis für einen Hauch Ordnung sorgen - oder wenigstens die Stolperfallen aus dem Weg räumen.

Der Tisch war so übersät mit losen Blättern und Notizen, dass ich nur in einer Ecke ein bisschen Platz für die Schüssel fand.
Ein prüfender Blick zum Bett bestätigte mir, was ich bereits vermutet hatte: Hanie schlief unter einem Berg aus Kissen und Decken. Nur die Hälfte seines Gesichts schaute heraus.
Ich schob die Vorhänge noch ein wenig auf, um das Fenster wenigstens für einen kurzen Moment zu öffnen, ehe ich die Tür schloss und damit die Gespräche, die aus dem Wohnbereich herüberwehten, aussperrte.
Ein leises Seufzen drang aus dem Deckenberg hervor, doch Han rutschte nur etwas herum und schlief ungerührt weiter.

Ich ließ mich auf einen der Stühle am Tisch fallen.
Bildete ich es mir nur ein oder waren die Schatten unter seinen Augen, die ihn seit Wochen begleiteten, weniger geworden? Vielleicht war es auch nur Wunschdenken und die Hoffnung, dass der Schlaf half und es ihm etwas besser ging.
Unbewusst knackte ich mit den Fingerknöcheln, während ich ihn beobachtete.
Ich hasste es, dass ich nichts tun konnte.
Mein Blick fiel auf die unzähligen Blätter vor mir, halb darunter verborgen sein geöffnetes Notizbuch, in dem er für gewöhnlich Songideen festhielt. Ob er wieder schrieb? Selbst die losen Blätter waren vollgeschrieben mit vereinzelten Wörtern oder ganzen Sätzen. Ich überflog das Papierchaos nur flüchtig und verbannte die Neugier aus mir, schließlich waren das hier seine privaten Gedanken und die gingen mich solange nichts an, bis er sie mit uns teilte.
In letzter Zeit hatte er nicht mal dazu die Kraft gehabt, obwohl er kaum etwas mehr liebte, als seine Gefühle in Melodien und Songtexte zu verwandeln.
Aber vielleicht -

Nun riskierte ich doch einen kurzen, genaueren Blick auf die Zeilen, obwohl sich augenblicklich das schlechte Gewissen meldete.

I'm afraid I'm gonna be left stranded by myself
All the foolish dreams I had inside of me are broken

Schmerzhaft biss ich auf meine Unterlippe und riss mich von den Zeilen los.
Oh Hanie.
Schwerfällig stand ich auf und schloss das Fenster, ehe ich nach einem letzten Blick auf ihn das Zimmer verließ.
Ich sollte mit Chan reden, ob er womöglich demnächst gemeinsam mit Han diese ganzen Gedankenschnipsel zu einem Song verarbeiten könnte.

[So many thoughts are inside of my head
I'm always drying these tears on my face
How could I ever get used to the fact that
The songs and the lyrics, they all sound the same]

-Slump-

Nachwort:

Das Kapitel ist auf Wunsch von Elumina entstanden. Ich hoffe, ich konnte deiner Vorstellung gerecht werden ^^

Through the years (Minsung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt