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-Noemi-

Schnell warf ich einen unsicheren Blick zu Lia, welche mir aber nur zunickte und meinte: „Ich warte draußen auf dich." Mit diesen Worten verlies sie das Klassenzimmer und schloss die Tür hinter sich. Ich war alleine mit Frau Herbst in einem Raum. Mit langsamen Schritten näherte ich mich dem Lehrerpult und blieb vor ihr stehen. „Sie wollten mich sprechen?"  „Ähm ja, ich wollte fragen, ob bei dir alles gut ist. Du warst heute die ganze Zeit über gedanklich nicht so richtig anwesend, hatte ich das Gefühl. Außerdem siehst du etwas müde aus, was mir ein wenig Sorgen bereitet." Mist, es war ihr aufgefallen. Als sie erwähnte, dass ich müde aussah flammten Erinnerungen an den Traum von vergangener Nacht vor meinem geistigen Auge auf. Ihre Lippen waren meinen so nah gewesen und alles schien perfekt...

„Noemi?"
„Ja, tut mir leid. Ich habe tatsächlich nicht besonders gut geschlafen, was eventuell erklärt, warum ich heute so unkonzentriert war, entschuldigen Sie, es wird nicht wieder vorkommen." versuchte ich mich rauszureden.
„Ich hab das Gefühl das ist nicht das einzige, was dich bedrückt." antwortete sie sanft und kam einen Schritt auf mich zu. Sie hob ihre Hand und fing an meinen Arm zu streicheln. Ihre Berührung löste ein Feuerwerk an Gefühlen in mir aus und die Stelle, an der sie mich streichelte brannte auf einen angenehme Art und Weise. Was machte diese Frau nur mit mir ???
„Falls du jemanden zum reden brauchst, ich hab immer ein offenes Ohr für dich, meine Liebe."
Meine Liebe
Ihre Worte sorgten für einen wohligen Schauer, der mich überkam und ich atmete scharf ein. Nun sah ich ihr das erste mal in die Augen, doch das hielt nicht lange, da mein Blick langsam zu ihren Lippen abrutschte. Sie hatten einen leichten rosigen Ton und sahen einfach perfekt aus. Sie musste meinen Blick bemerkt haben, denn ich spürte, wie ihr Streicheln kurz stoppte, bevor sie schließlich ihre Hand wieder zu sich nahm. Nein ! Hören sie bitte nicht auf mich zu berühren...

-Kira Herbst-

Ihr Blick lag auf meinen Lippen. Er fokussierte sie geradezu. Aber warum? Sah man sich nicht eigentlich in die Augen, während man sich unterhielt ? Tzz, da vergaß sie doch glatt ihre guten Manieren. Aber ich muss zugeben, es war schon sehr verlockend... Als sie scheinbar nicht vorhatte, irgendwo anders hinzugucken richteten sich meine Augen ebenfalls langsam auf ihre Lippen. Heilige- was tat ich hier nur ?? Ihre Lippen waren rot und sie trug einen Lipgloss, was sie noch wundervoller machte und das Bedürfnis, ihnen näher zu kommen, wachsen lies. Nein ! Stop ! Was machte ich hier nur, sie war meine Schülerin !! Ich räusperte mich und begann mit zittriger Stimme zu reden „A-Also jedenfalls bin ich immer für dich da, w-wenn du was brauchen solltest, oder jemanden brauchen solltest." mit einem leicht verschmitzten Lächeln erwiderte sie „Vielen Dank, Frau Herbst. Falls ich mal jemanden brauche, wende ich mich an Sie."
„G-Gut, einen schönen Tag dir noch."
„Wünsche ich Ihnen auch."
Nachdem wir uns verabschiedet hatten, verlies sie den Klassenraum und ich lies mich geschockt auf den Stuhl fallen. Ich weiß nicht was das gerade war, aber es durfte nie wieder vorkommen !!

-Noemi-

Ich schloss die Tür hinter mir und atmete mit geschlossenen Augen tief ein und aus. Sie war rot geworden, ich hatte es genau gesehen. Oder bildete ich mir das nur ein, da es irgendwie meinen Hoffnungen entsprach ? Nein. Eindeutig. Ihre Wangen hatten einen süßen, leicht rötlichen Ton angenommen, als sie meinen, auf ihren Lippen liegenden, Blick bemerkt hatte. Aber bedeutete das wirklich irgendwas oder wünschte ich mir nur, dass es etwas zu bedeuten hatte?
„Ist da jemand auf Wolke 7 ?"
Erschrocken drehte ich mich nach rechts, von wo ich die Stimme von Lia wahrgenommen hatte. Sie hatte das breiteste Grinsen auf dem Gesicht, das ich je gesehen hatte. Ach Scheiße ! Ich hatte komplett vergessen, dass sie ja vor der Tür warten wollte.
„Ähm- ich- nein, wieso sollte ich?"
„Komm schon Noemi, ich bin doch nicht doof. Ich seh doch, wie du sie anschaust, als wäre sie der hellste Stern am Himmel."
„Nein, ich- also ja sie ist nett und so, aber ich will doch nichts von meiner Lehrerin." versuchte ich so leicht wie möglich zu erwidern und lachte ein wenig, damit es als wirklich abwegig schien, was es ja offensichtlich nicht war, oder ? Hatte ich wirklich Interesse an meiner Lehrerin ? Ich war noch nie richtig verliebt, deswegen konnte ich schwer sagen, wie sich sowas anfühlte, aber wenn ich Frau Herbst sah, breitete sich so ein Kribbeln in meiner Magengegend aus, was dann wahrscheinlich die berühmten Schmetterlinge waren.

„Aha, na dann. Es wäre sowieso aussichtslos, ich meine sie ist, keine Ahnung, 16 Jahre älter als du und hat wahrscheinlich einen Freund, oder sogar einen Mann."
„Sie ist nur 13 Jähre älter." murmelte ich vor mich hin.
Mit einem misstrauischen Blick und einer hochgezogenen Augenbraue sah Lia mich an, bevor sie „Wie auch immer." erwiderte.
Schweigend liefen wir beide zu den Fahrradständern, wo wir unsere Fahrräder angeschlossen hatten. Wir verabschiedeten uns voneinander und fuhren in verschiedene Richtungen nach Hause.

Der kalte Wind blies mir ins Gesicht, als ich mit dem Fahrrad in meine Straße einbog. Ich war am erfrieren, doch mein Gesicht glühte förmlich. Erst jetzt bemerkte ich, dass warme Tränen über meine Wangen kullerten. Diese ganze Situation mit Frau Herbst nahm mich echt mit. Seitdem ich sie das erste mal gesehen hatte, waren mein Gefühlshaushalt ein komplettes Chaos und meine Gedanken könnten nicht verwirrter sein. Die ganze Sache lies sich nicht mehr leugnen. Ich kannte Frau Herbst seit gestern und hatte mich Hals über Kopf in sie verliebt. Es war so etwas wie Liebe auf den ersten Blick, falls das überhaupt existierte. Noch schlimmer war jedoch, dass ich mit niemandem darüber reden konnte. Ich meine, Lia hatte ja schon so eine Vorahnung, welche ich jedoch verneint hatte, weswegen ich ihr jetzt nicht diese Bestätigung geben wollte. Und meine Mom ? Ich hab ein sehr gutes Verhältnis zu ihr, aber wie würde sie reagieren, wenn ich ihr erzählen würde, dass ich meine große Liebe gefunden hatte, es jedoch meine Lehrerin war. Außerdem wusste meine Mom noch nicht einmal, dass ich auch auf Frauen stand, was ich fairerweise vor Frau Herbst selbst noch nicht gewusst hatte.
Aber meine große Liebe - war sie das überhaupt, oder spielten meine Gefühle einfach nur verrückt, weil ich mich das erste mal verknallt hatte ? Ahhh, ich wusste es nicht.

Genug für heute, beschloss ich, als ich mich in mein Bett fallen lies. Ich zerbrach mir den Kopf über eine Liebe, die sowieso nie erwidert werden würde. Das alles hatte also keinen Sinn. Natürlich hielt mich dieser Fakt nicht davon ab, denn restlichen Tag damit zu verbringen, an Frau Herbst und unser Gespräch heute zu denken. Ich analysierte jedes nur mögliche Signal, dass sie mir heute eventuell gegeben hatte, das darauf hinweisen könnte, dass sie mich vielleicht auch mochte. Ich wusste natürlich tief in mir drin, dass das nur Wunschdenken war, aber an dem heutigen Abend überließ ich die Steuerung meinem Herzen und tauchte ab in die Gedankenwelt meiner Wünsche und Hoffnungen.

Eine Liebe, die nur wir verstehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt