06 | Sienna

20 2 19
                                    

»Leonardo war ein Mann, wie es ihn selten gab. Ein fürsorglicher Vater, ein gutmütiger Großvater, deren Liebe zu seinen Enkeln nicht zu beschreiben ist. Er war humorvoll und konnte einen in jeder Lebenslage aufheitern. Gleichzeitig hatte er immer ein offenes Ohr und einen guten Rat bereit. Seinen Söhnen gab er das mit, was am wichtigsten im Leben ist:«

Ein lauter Schrei dröhnt durch die Kirche und verschluckt das letzte Wort des Pfarrers.

Erschrocken zucke ich zusammen und hebe den Kopf. Ich brauche einen Moment, um zu realisieren, dass es der Schrei eines Babys war, welches jetzt beginnt zu weinen. So laut, dass selbst der Priester vorne am Altar aufhört, die Lebensgeschichte meines Großvaters zu erzählen.

Was ich gar nicht so schlimm finde. Wenn es nach mir ginge, hätte er gar nicht erst damit anfangen müssen. Ich kannte meinen Großvater gut genug - ich brauche niemanden, der mir aus seinem Leben vorliest.

Müde reibe ich mir meine Augen und werfe einen verstohlenen Blick auf die Uhr. Ich unterdrücke ein Gähnen und gehe wieder zurück in den Halbschlaf. Krampfhaft blende ich die Stimme des Priesters aus, der mit der Beschreibung fortfährt und versuche, nicht nach hinten zu schauen, um zu entdecken, wessen Kind es ist.

Ich sehne mich nach dem Tag, an dem sich mein Herz nicht mehr so zusammenzieht. Doch das Leben ist nicht fair und der hölzerne Sarg, geschmückt mit Kränzen und Blumen, macht es mir wieder bewusst.

Nonno war ein guter Mann. Ja, er hat zu viel geraucht - ich erinnere mich noch, dass mich der Zigarettenduft im Haus schon als kleines Kind begleitet hat - und er hat sich gerne mal einem Glas Wein zu viel hingegeben. In manchen Dingen war er zwar vielleicht nicht das beste Vorbild, aber der Priester hat recht, wenn er behauptet, Nonno hat uns das wichtigste im Leben mitgegeben: die Liebe.

Manchmal frage ich mich, was das überhaupt ist - Liebe. Ich dachte mein Leben lang, es ist das, was Raffaele und ich für einander empfinden. Oder das, was Francesca, Marco, Felicia, Raffaele, Navia und mich zusammenhielt. Doch jetzt - jetzt ist beides zerbrochen. Und was meinen Großvater betrifft - ich hatte zwar ein deutlich engeres Verhältnis zu meiner Großmutter als zu ihm, doch wenn ich nun auf seinen Sarg sehe, frage ich mich, wie es weitergehen soll.

Besorgt werfe ich meinem Vater einen Seitenblick zu. Nun hat er beide Elternteile verloren; Menschen, die er geliebt hat, Menschen die ihm Liebe gegeben haben.

Was also ist das - Liebe?

Endet sie mit dem Tod? Kann man sie kontrollieren? Kann man ohne sie überleben?

Als der Priester verstummt, werde ich aus meinen Gedanken gerissen und blicke hoch. Mittlerweile hält er Weihrauch in seiner Hand und wir stehen auf, als er die letzten Gebete für Nonno spricht.

Ich habe mich früher nie wirklich gewundert, wohin man kommt, wenn man stirbt. Natürlich habe ich mir ab und zu diese Frage gestellt, doch insgesamt habe ich nur wenige Gedanken darüber verschwendet. Anders als Raffaele, der mir mit seinen Fragen ständig auf die Nerven gegangen ist. Oder Navia, deren Augen stets diesen besonderen Blick bekamen, als sie vom Tod und Jenseits sprach.

Ich weiß nicht, an was Nonno geglaubt hat. Er ging zwar manchmal in den katholischen Gottesdienst aber wirklich religiös war er nicht. Er hat es zwar nie direkt zu mir gesagt, doch ich habe ihn gehört, wie er sich gefragt hat, wie dieser Gott so viel Leiden zulassen kann. Dieselbe Frage, die ich mir in den vergangenen Monaten gestellt habe.

Doch er hat ein gutes Leben geführt, ist das nicht auch etwas wert?

Während wir ihn zur letzten Ruhestätte am Friedhof begleiten - mein Vater geht mit dem Kreuz voran, ich folge mit der Kerze, hinter uns der Sarg, der Priester und alle übrigen -, erinnere ich mich an die letzte Beerdigung, an der ich war.

Cittadina TramontoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt