03 | Raffaele

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Erschöpft binde ich meine Schürze ab, werfe sie achtlos über einen Stuhl und rufe Paolo »Ciao!«, zu bevor ich durch die Haupttür hinaus trete.

Schwüle Luft schlägt mir entgegen. Es ist schon nach Mitternacht, doch trotzdem zu warm draußen, eine Folge der heißen Temperaturen und des schon lange benötigten Regens. Dennoch fühlt es sich erfrischend an, im Gegensatz zu der stickigen Luft im Restaurant, vermischt mit dem Rauch von Zigaretten. Meiner Meinung nach ist es ekelhaft, im Restaurant rauchen zu dürfen aber Paolo - welcher selbst stets eine Kippe in der Hand hält - lässt sich da nichts sagen.

Ich gähne, ohne mir die Hand vor den Mund zu halten. Es sieht mich sowieso niemand und außerdem bin ich so müde, dass ich kaum die Kraft habe meine Gelenke zu bewegen, geschweige denn meine Arme zu heben. Der Weg zu der kleinen Wohnung, die mir Paolo vermietet, ist zwar nicht weit, fühlt sich aber endlos an.

Ich habe keine Ahnung, wie ich morgen arbeiten soll. Oder besser gesagt: heute. Es ist schon 2 Uhr nachts und ich bin seit 16 Stunden auf den Beinen. Nur mit Mühe halte ich die Augen offen und obwohl ich meine Brille anhabe, sehe ich kaum wohin ich laufe.

Das war einer der anstrengendsten Tage meines Lebens.

Paolo hat mich nicht früher gehen lassen und ich bin viel zu abhängig von ihm, als dass ich ihm widersprechen könnte. Anstatt einer Schicht habe ich zwei gearbeitet und statt in meiner Küche sein zu können, musste ich kellnern.

Eigentlich sollte ich wütend auf Paolo sein, doch in meinem Kopf herrscht eine solche Leere, dass ich an gar nichts mehr denken kann.

Als ich an der kleinen Bäckerei nach links abbiege und meine Wohnung schon erblicke bemerke ich, dass ein Taxi auf dem Gehsteig davor steht und sich zwei Personen angeregt unterhalten. Als ich näher komme, sehe ich, dass es ein Mann ist den ich noch nie gesehen habe, der mich aber stark an jemanden erinnert - nur weiß ich nicht, an wen - und eine junge Frau, die ich nur zu gut kenne: Francesca, eine aus unserer einstigen Freundesgruppe.

In den letzten Wochen bin ich ihr verhältnismäßig oft begegnet und haben jedes Mal einige Worte ausgetauscht; freundlich und fast wie in alten Zeiten. Es kommt mir so vor, als wäre damals alles nicht gewesen, als wäre nicht sie diejenige gewesen die mich so dringend weghaben wollte.

Als ich an ihnen vorübergehe, wird ihre Stimme lauter und deutlich wütender und ich schnappe ungewollt ihre Worte auf. »Du bist so ein Arschloch! Frauen sind keine Objekte, die du dir einfach nehmen kannst wie du willst!«

Die Worte dringen zwar zu mir, doch ich nehme sie nicht wirklich war. Ich kann nicht einmal sagen, ob das gerade wirklich passiert oder ich es mir einbilde. Ich möchte einfach nur noch schlafen.

Mit zitternden Fingern sperre ich die Tür zu meiner Wohnung auf und taumle in das Wohnzimmer. Dort angekommen, lege ich mich sofort auf das Sofa, welches mir als Bett dient. Mein Körper ist voller Schweiß und ich sehne mich nach einer Dusche, doch ich habe keine Kraft mehr dazu.

Seit ich vorhin gehört habe, dass Sienna kommt, habe ich nicht aufhören können, an sie zu denken. Jetzt bin ich aber zu erschöpft dazu, worüber ich eigentlich auch froh bin. Die Nachricht hat mich so aus der Fassung geworfen, dass ich mich nur mit Mühe dazu zwingen konnte, weiterzuarbeiten. Um ehrlich zu sein, hätte ich nicht gedacht, dass ich es schaffe. Ich war so unkonzentriert, dass ich nicht nur einmal die Bestellungen verwechselt habe, woraufhin mich Paolo öfters ermahnen musste.

Ich schließe meine Augen und lasse mich in den Schlaf sinken. Wenn ich später aufwache, werde ich mich mit einigen Gedanken auseinandersetzen müssen.

Einerseits, ob ich diesen Job noch weiterhin machen soll - wobei sich dann die Frage stellt, was ich tun kann, wenn nicht? Wenn ich aber weiterarbeite, bin ich irgendwann kaputt, das ist mir selber bewusst. Ich schlafe kaum, esse zu wenig, weil ich keine Zeit habe.

Aber andererseits muss ich mich auch darum kümmern, was ich tun soll wenn ich Sienna begegne.

-

»Ahhh!«

Schweißnass schrecke ich auf.

Mein Herz schlägt bis zum Hals, meine Hände sind eiskalt. Hastig und unkontrolliert geht mein Atem und ich zittere am ganzen Körper. Ich zucke zusammen, als ich ein Raunen höre, doch es ist nur der Wind, der an das offene Fenster schlägt.

Ein Alptraum. Es ist nur ein Alptraum, wiederhole ich innerlich. Ein Alptraum der ganz schlimmen Sorte. Er hat sich so real angefühlt, obwohl er doch so unrealistisch war.

Aufgewühlt fahre ich mit der Hand durch meine nassen Haare. Ich bin am ganzen Körper so schweißgebadet, als wäre ich direkt aus der Dusche gekommen und meine Klamotten kleben ekelhaft an mir.

Nur ein Traum.

Ich habe Angst, die Augen zu schließen, weil sonst das schreckliche Bild wieder auftaucht. Ich, wie ich ein kleines Baby in der Hand halte und-

Zu meinem eigenen Besten zwinge ich mich, den Gedanken nicht weiter zu verfolgen und konzentriere mich stattdessen auf meine Atmung. Ein und aus. Einatmen. Eins, zwei, drei. Ausatmen. Eins, zwei, drei.

Erschöpft sinke ich langsam wieder zurück in das Kissen. Ich dachte, es wäre vorbei. Ich dachte, die Alpträume hätten aufgehört.

Ich spüre, wie eine Träne meine Wange runterrinnt. Der Traum drängt sich wieder in meinen Kopf. Ich halte ein Baby in der Hand, meinen kleinen Sohn, doch er wird mir weggenommen. Ich will ihn nicht loslassen, man zerrt ihn mir aus der Hand.

Ich spüre wie mein Atem wieder schneller wird. Das Bild meines Vaters erscheint plötzlich vor mir, ich taste nach dem Rosenkranz unter meinem Kissen - ein Geschenk von ihm - und umgreife ihn fest.  Es ist nur ein Traum, sage ich mir vor. Einatmen. Ausatmen.

Als ich zehn Jahre alt war, ging mein Vater mit einer Gruppe aus einem anderen Dorf zu einem Wallfahrtsort und kaufte mir dort diesen Rosenkranz. Früher habe ich nie an ihm gebetet, doch wenn mir bang ums Herz wurde, mochte ich es, ihn in der Hand zu halten. Doch jetzt hilft er mir nicht. Ich denke an meinen Vater, denke an meine Mutter und die Probleme meiner Kindheit. Und dann stelle ich mir wieder vor, dass ich mein eigenes Kind in den Händen halte, mit ihm spiele, mich um ihn kümmere. Ich hätte ihm alles gegeben, was ich selbst nicht haben konnte.

»Warum? Warum, Gott?«, frage ich mich im Stillen. Ich drehe mich zur Seite, vergrabe mein Gesicht im Kissen und lasse den Tränen freien Lauf.

-

Mein Vater war immer der Gläubige in unserer Familie. Jeden Sonntag besuchte er die Kirche und wenn es ihm möglich war, auch unter der Woche. Manchmal habe ich ihn zuhause angetroffen, wie er heimlich betet. Er war immer ruhig, selbst wenn es turbulent wurde, hatte stets ein Lächeln im Gesicht und verlor nie die Nerven, wurde nie auch nur im Geringsten aggressiv. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich es nie verstehen konnte.

Meine Mutter dagegen hatte schon immer einen übertriebenen Hang zum Alkohol. Als ich noch ganz klein war, konnte sie es kontrollieren, doch sobald ich die Schule begann, geriet alles außer Kontrolle. Sie war stets betrunken, oft aggressiv aber manchmal lag sie auch tagelang apathisch im Bett und tat nichts. Niemand konnte es beweisen, doch jeder wusste, dass sie Drogen nahm. Ich hatte Angst vor ihr. Wäre mein Vater nicht gewesen, weiß Gott was gewesen wäre. Nicht nur einmal hat er mich von ihren Schlägen bewahrt.

Ich konnte es nicht erwarten, von zuhause auszuziehen. Das einzige, große Ziel in meinem Leben war, nie wie meine Mutter zu werden. Jahrelang habe ich nichts Alkoholisches angerührt. Ich wollte meiner Familie das, was ich selbst erlebt habe, nicht zumuten.

Lange Zeit ging es so gut. Das Leben war schön, ich hatte endlich Sicherheit und Geborgenheit, vor allem aber Liebe. Doch dann, in einer Sekunde, war alles weg. Und ich verlor den Kampf, denn ich verlor meine Familie - für wen lohnte es sich dann noch zu kämpfen?

Ich bin der Idiot in der ganzen Geschichte und ich bin der, wegen dem unsere Ehe zerfallen ist.

Jeden Tag frage ich mich: Was wäre, wenn?  Wenn ich nicht angefangen hätte zu trinken, wenn ich nicht mein ganzes Geld bei Glücksspielen verloren hätte -  vielleicht hätten wir es geschafft, wenn wir zusammen über den Verlust getrauert hätten, vielleicht wären wir jetzt eine glückliche Familie mit Kindern.

Der Gedanke daran schmerzt mich tief und jeden Tag bereue ich diese Entscheidung, nach dem Bier gegriffen zu haben.

Doch jetzt ist es vorbei, ich kann es nicht mehr ändern, so sehr ich es auch will.




Cittadina TramontoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt