08 | Raffaele

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Sie hat es gesehen.

Ich halte mitten in der Bewegung inne und beobachte Sienna, wie sie die glimmende Zigarette auf den Boden wirft und mit ihren Füßen austritt. Ich kenne sie zu gut, als dass ich nicht wüsste, was in ihr vorgeht. Ich sehe die geballten Fäuste und erahne ihre Gedanken.

Obwohl ich weiß, dass ich mich schleunigst wieder in die Küche begehen sollte, bleibe ich stehen, das Geschirrtuch in der Hand haltend. Ein tiefer Schmerz durchdringt meine Seele, als ich beobachte, wie Siennas Blick sich wieder zu Francesca dreht. Ich kann mir kaum vorstellen, wie weh es ihr tun muss, ihre einstige Freundin so glücklich zu sehen; schwanger - während sie alles verloren hat: ihren Mann und noch viel schlimmer, ihr Baby.

Mir selbst fällt es noch immer schwer, glückliche Familien oder werdende Eltern zu sehen, doch wieviel schlimmer muss es für Sienna sein?! Sich vorzustellen, dass sie diese Person sein könnte, dass ihr Bauch ein Kind in sich tragen könnte. Doch stattdessen schlägt sie nur dieses schreckliche Bewusstsein, dass unser Kind nie das Licht der Welt erblicken konnte.

Traurig beobachte ich sie dabei, wie sie eine zweite Zigarette hervorholt und sie anzündet. Sie lehnt sich an den Zaun, scharrt unruhig mit ihrem Fuß auf dem Boden herum. Wie gerne würde ich zu ihr gehen und sie in den Arm nehmen! Lediglich für sie da sein - das tun, was ich zu tun verfehlt habe.

Doch abgesehen davon, dass sie das wahrscheinlich nicht einmal zulassen würde, würde eine Begegnung alles nur noch schlimmer machen. Ich glaube nicht, dass sie weiß, dass ich hier bin.

Würde sie sich umdrehen, würde sie mich sehen. Was sie zum Glück nicht macht. Ich wüsste nicht, was ich sonst tun oder sagen sollte - und ich bin mir sicher, dass es ihr lieber ist, wenn sie mich nicht sieht.

Es wäre besser, ich verschwinde wieder in die Küche. Das Geschirr muss abgewaschen und die Arbeitsplatten sauber gemacht werden. Die anderen Mitarbeiter fragen sich bestimmt schon, wo ich so lange bin. Es fehlt nicht mehr lange, bis sie kommen und mich rufen.

Doch ich kann meinen Blick nicht abwenden. Es ist, als wäre ich festgewurzelt. Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein creepy Stalker.

Ich richte die Augen in den Himmel hinauf. Die sonst so schwüle Luft hat sich seit gestern merklich abgekühlt und dunkle Wolken zieren den sonst strahlenden Himmel. Obwohl es erst Nachmittag ist, könnte man denken, die Nacht bricht gleich heran. Auch ohne dass ich den Wetterbericht für morgen gehört hätte, erkenne ich, dass sich ein Sturm anbahnt.
Ich stelle mir vor, dass oben eine ganz eigene Welt stattfindet, eine Ewigkeit. Der Gedanke gibt mir Trost; ich weiß, dass es einmal ein Wiedersehen oben geben wird. Das ist genau das, was mich noch hier auf Erden hält.

Denn wenn mich nach dem Tod nichts mehr erwartet, was bringt es mir noch, weiter so zu leben? Doch wenn danach die Ewigkeit ist, wie könnte ich jetzt nicht versuchen, mein Bestes darin zu geben, meine Fehler auszubessern?

Ich zucke zusammen, als ich das Quitschen der Türe höre. Ertappt drehe ich mich um und sehe Giovanni, der sich mit strengem Blick zu mir wendet. »Was machst du? Wo bleibst du denn?« In seiner Stimme klingt Ärger mit. Eine Handbewegung reicht, um mich in Bewegung zu setzen und ich trotte schuldbewusst hinter ihm her. Als ich die Türe hinter mir zu machen will und mich umdrehe, sehe ich wie Siennas Augen auf meine treffen.

So viele Emotionen auf einmal treffen auf mich ein, tausende Gedanken durchströmen meinen Kopf.
Ich beeile mich, in die Küche zu kommen, um ihrem Blick entrinnen zu können.

-

»Alles klar?«

Giovanni mustert mich mit prüfenden Blick, als wir endlich alles aufgeräumt und versorgt haben. Seine Schicht endet hier, während Paolo mich noch dazu verdonnert hat, bis Mitternacht zu bleiben.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 19 ⏰

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Cittadina TramontoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt