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Ich schlug hart auf dem Fließenboden auf. Ein schmerzverzerrtes Stöhnen entrinnt meiner Kehle.
"Ihr seid tot. Steht auf. Gleich noch einmal."
Der Elb vor mir reichte mir seine Hand. Ich ließ mir aufhelfen.

Ich war in Bruchtal. Durch die hohen Fenster fiel die trübe Nachmittagssonne eines ungewöhnlich milden Wintertages in das Zimmer, in dem Glorfindel mich seit einigen Wochen trainierte. Es war Elronds Idee gewesen, als ich ihm verkündete, dass ich über die kalten Winterwochen in Bruchtal bleiben wollte. Er sagte, dass Glorfindel einer der ältesten und mächtigsten Elben Mittelerdes war und ich bei ihm die bestmögliche Ausbildung erhalten würde. Ich war mir nicht sicher, warum ihm das so am Herzen lag, doch ich sah ihm an, dass es ihm wichtig war, dass ich mich nicht nur auf meine Sinne verließ, sondern auch die magischen und überirdischen Fähigkeiten nutzen konnte, die mächtigen Elben zur Verfügung standen.
Das Training war hart. Einerseits war ich stolz darauf, dass Glorfindel und Elrond sich die Mühe machten und es offensichtlich nicht für Zeitverschwendung hielten, mir diese uralten Formen der magischen Künste beizubringen. Andererseits war es unglaublich anstrengend.

Ich nahm meine Ausgangsposition ein. Glorfindel positionierte sich mir gegenüber auf der anderen Seite des Raums. Er war ein bildschöner Elb, mit langen Haaren, wie flüssiges Sonnenlicht und perfekten, leichten Gesichtszügen. Er hielt sein Langschwert, als wäre es leicht wie eine Feder.
"Ihr müsst darauf achten, das Gleichgewicht zu finden. Entweder verlasst Ihr Euch zu stark auf die Magie oder Eure Sinne. Wendet Eure Kräfte an, aber verliert dabei Eure Umgebung nicht aus den Augen."
Ich nickte und festigte meinen Stand.
Ich sammelte meine Kräfte in mir und schritt über die Brücke, die ich mit Glorfindels Hilfe in mir errichten konnte. Diese Brücke führte mich in die Zwischenwelt. Mit einem Wimpernschlag veränderte sich meine Umgebung. Alles irdische verschwamm zu einem Mix aus grauen Schlieren, doch alles was magisch war, trat umso deutlicher hervor. Wo gerade noch Glorfindel stand, ragte nun eine weiß brennende Säule in die Höhe. Ich konnte seine Silhouette nur noch erahnen. Durch einen Blick an mir hinunter wusste ich, dass ich genauso aussah - vielleicht etwas weniger hell.
Glorfindel bewegte sich auf mich zu. Ich wich aus und setzte zum Gegenschlag aus. Der Schlagabtausch war schnell. Es tat so gut, einen starken Gegner zu haben, jemanden, den ich nicht nach zwei Schlägen besiegt hatte. Es war eine Herausforderung an der ich wachsen konnte.
Glorfindel unterstützte seinen zweiten Schlag durch Magie. Ich erkannte es an dem Glühen, das seine Klinge durchströmte. Als Antwort darauf führte ich meine Kräfte zusammen und formte einen Schild. Gleichzeitig schwenkte ich mein Schwert zum Gegenschlag.
Ich frohr in der Bewegung ein, als ich Stahl an meinem Hals spürte.
Ich rutsche zurück in meinen fleischlichen Körper und die Konturen der Außenwelt wurden wieder scharf.
"Was war es diesmal?", fragte ich, während ich zu dem Tisch mit den Erfrischungsgetränken ging.
"Ihr habt euch darauf verlassen, dass ich meine Klinge mit Magie stütze. Euer Schild hat die Magie auch aufgehalten und den Schlag abgeschwächt, doch die materielle Form des Schwertes lässt sich nicht durch Magie aufhalten", erklärte Glorfindel und lehnte sich gegen das Fenstersims. Ich nippte an meinem Kelch.
Schwer atmend setzte ich den Kelch ab und wollte wieder in die Mitte des Raumes gehen.
Glorfindel hab eine Hand.
"Es reicht für heute. Ihr solltet Eure Kräfte nicht zu sehr verausgaben. Ihr glaubt, dass Stärke durch hartes Training kommt, doch diese Stärke ist nur verübergehend. Wahre Stärke kommt mit der Zeit und lässt sich nur durch geduldsame Übungen und Ruhepausen erreichem. Wir machen morgen weiter."
Ich senkte respektvoll den Kopf.
"Ich danke Euch", sagte ich und verließ den Saal.

Ich wanderte durch die stillen Gänge Bruchtals bis zu meinen Gemächern. Elrond hatte sie während meinem Aufenthalt in Lothlorién verlegt. Ich bewohnte nun nicht mehr eines der Gästezimmer, die Elrond in den unteren Stockwerken seines Anwesends bereithielt, nein. Ich lebte jetzt im privaten Teil des Hauses, Tür an Tür mit Elronds Kindern.
Als mich Elrond am Tag meiner Ankunft in Bruchtal zu meinem Zimmer geleiten wollte, war ich zunächst verwirrt, als er mich in diesen Teil des Hauses führte. Sobald er jedoch die Tür zu meinem Gemächern geöffnet hatte und mir den Schlüssel für das Zimmer in die Hand gegeben hatte, war ich ihm in die Arme gefallen. Tränen strömten über meine Wangen und ich hörte nicht mehr auf, mich zu bedanken.
Auch jetzt noch konnte ich es nicht begreifen. Die tiefe Dankbarkeit in meinem Herzen glühte und verbreitete eine Wärme in meinem Körper. Es war hunderte von Jahren her, seit ich das Gefühl hatte, ich gehörte zu einer Familie. Ich saß während den Mahlzeiten am erhöhten Familientisch neben Arwen in der Reihe von Elronds Kindern, ich wurde in den Chroniken Bruchtals als Ehrenmitglied der Familie aufgeführt und zählte nun offiziell zur Bewohnerin von Bruchtal.
Mir war nicht klar gewesen, dass der Tag, an dem ich Elronds Angebot auf einen persönlichen Umgang akzeptierte, zu meiner Aufnahme zu seiner Familie führen würde.
Ich ging in meine Gemächer und streifte die verschwitzte Kleidung von meinem Körper und nahm ein schnelles Bad und kleidete mich dann in elegante Roben für das Abendessen. Während ich durch den Raum schlenderte und mir die Haare kämmte, blieb mein Blick an meiner Reisetasche hängen, die auf einem der Stühle vor dem kleinen, runden Tisch lag, der vor dem Fenster stand. Mehrere Briefe ragten aus der Tasche, die ich von Dunland nach Rohan oder Gondor bringen sollte. Diese Briefe müssten noch etwas warten. Ich sah es beim besten Willen nicht ein, im starken Schneefall durch Mittelerde zu spazieren. Nun hatte ich schon einmal den Luxus eines riesigen Privatgemachs, dann wollte ich ihn auch nutzen. Ich nahm einen der Briefe aus der Tasche. Wenigstens diesen einen konnte ich ausliefern.
Gestern war eine junge Dunedáin mit einem kleinen Kind auf dem Arm in Bruchtal eingetroffen und bat Elrond um Unterkunft. Als sie ihren Namen nannte, erkannte ich ihn wieder.
Als ich vor einigen Monaten bei den Dunedáin war, kam eine Frau zu mir. Für ihre Verhältnisse war sie nich jung, doch ich sah bereits die Zeichen des Alters in ihren Zügen. Sie reichte mir einen schweren Brief und sagte dazu, dass ihre Cousine mit ihrem Sohn verschwunden war, als ihr Gatte Arathorn, der Stammesanführer, verstorben war. Scheinbar schien sie sich Sorgen um die Sicherheit ihres Sohnes zu machen und war Richtung Südosten aufgebrochen. Der Brief war an eine Gilaen, Tochter von Dírhael adressiert, der gleiche Name, den die junge Frau gestern Abend genannt hatte. Es dauerte nur seine Zeit, bis ich die Verbindung erkannt und die Umschläge durchsucht hatte.
Jetzt fuhr ich mit dem Finger über die Handschrift der Frau, die den Umschlag adressiert hatte. Meine Augen folgten den Buchstaben.
An Gilaen und ihren Sohn Aragorn.

Träume und Schatten (Herr der Ringe ff)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt