Kapitel 22 - Viren reisen wie Könige

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Jessica Chamberlain trat hinaus in den warmen Abend und hielt ihr Gesicht in die letzten Strahlen der kalifornischen Sonne.

Sie atmete dankbar die frische Luft ein, die nach Lavendel und Orangen duftete, und die ihr, nach dem stundenlangen Tragen einer OP-Maske, unglaublich rein vorkam.

Gott sei Dank, endlich Feierabend. Eigentlich mochte sie ihre Arbeit, aber die letzten Tage zählte sie eindeutig zur Kategorie „braucht kein Mensch".

Natürlich, Krankheit und Tod gehörten zu ihrem Berufsalltag wie Primeln zum Leben eines Gärtners. Und wenn alte Leute in ihrer Schicht ihrem Schöpfer entgegentraten, dann war das sicher nicht schön, aber auszuhalten. Anders sah es da schon aus, wenn es jüngere Leute traf. Wenn eine heimtückische Krankheit sie erwischte oder ein Unfall sie aus dem Leben riss. Und dennoch bezeichnete Jessica auch das als Teil ihres Jobs. Was sich allerdings in den letzten drei Tagen hier abgespielt hatte, das war schon eine ganz andere Hausnummer.

Der arme Tropf, der nach einem Spinnenbiss mehr tot als lebendig eingeliefert worden war, hatte vorgestern den Kampf gegen das Gift verloren. Dass er es nicht schaffen würde, war ihr im Grunde von vornherein klar gewesen.

Viel beängstigender aber erschien ihr die Tatsache, dass am darauffolgenden Tag bei zwei weiteren Personen exakt die gleichen Symptome auftraten. Nur, dass diese beiden gar nicht mit dem Gift in Berührung gekommen waren.

Ja, man hatte sofort Vorsichtsmaßnahmen eingeleitet, die erkrankten Personen unter Quarantäne gestellt und die Mitarbeiter der Klinik streng kontrolliert, ob sie auch zu jeder Zeit Maske und Handschuhe trugen. Trotzdem hatten diese Vorfälle Jessica zutiefst verunsichert. Das konnte kein Zufall sein. Was wiederum bedeutete, dass man sich diese tödlichen Symptome auch zuziehen konnte, ohne dass man von einer Spinne gebissen wurde.

Je länger sie darüber nachdachte, desto größer wurde der eisige Klumpen in ihrem Magen.

Sie setzte sich auf eine kleine Steinmauer, die eine mit Wildblumen bepflanzte Fläche neben dem Klinikportal begrenzte. Lauren Davies und Chris Jennings, ihre Kollegen, verließen ebenfalls gerade das Krankenhaus und winkten ihr freundlich zu.

Vor ihnen lagen drei dienstfreie Tage, auf die sich Jessica ehrlich freute. Sie würde gleich nach San Francisco hoch fahren, ihren älteren Bruder und dessen Frau Patty besuchen. Das war schon länger geplant und längst überfällig. Die unterschwellige Sorge vor der Bedrohung durch eine mysteriöse Krankheit verleidete ihr die Vorfreude jedoch gehörig.

Jessica kramte ein Päckchen Zigaretten aus den Tiefen ihrer überdimensionalen Handtasche, suchte nach dem Feuerzeug und setzte die Spitze der Zigarette in Brand. Der Geruch nach Tabak stieg ihr wohltuend in die Nase. Sie inhalierte und wunderte sich im selben Moment über ein unangenehmes Kratzen im Hals. Vertrug sie jetzt die Kippen etwa nicht mehr?

Sie seufzte, stand auf und machte sich auf den Weg zu ihrem Wagen, einem Mini Rover Classic, der auf dem nahegelegenen Krankenhausparkplatz stand. Eine kleine Reisetasche stand bereits gepackt im Kofferraum. Sie konnte gleich von hier aus auf dem Highway 1 nach San Francisco aufbrechen. Wenn nur dieses lästige Kratzen im Hals nicht wäre. Ärgerlich räusperte sie sich.

Minuten später fädelte sie sich in den fließenden Verkehr ein, fuhr zügig die English Ave hinunter, bis sie die Auffahrt zum Cabrilo Highway erreichte, der hier in Monterey das Tor zur Scenic Road darstellte. Diese siebzehn Meilen lange Strecke bot eine atemberaubende Naturkulisse, um derentwillen es allein schon lohnte, in den Norden Kaliforniens zu reisen. Hier passte das Sprichwort „der Weg ist das Ziel."

Über dem tiefblauen Pazifik begann die Sonne langsam unterzugehen. Linker Hand hob sich die zweihundert Jahre alte einzelne Zypresse, das Wahrzeichen von Monterey, dunkel vor dem dramatisch roten Himmel ab. Fast sah es so aus, als hätten Flammen die feinen Verästelungen des alten Baumes erfasst und ihn in Brand gesetzt. Jessica erinnerte der Anblick an die Schlussszene des Filmklassikers „Gone with the wind".

Kurz vor San Marino wurde ihr klar, dass sie abfahren und einen Drugstore aufsuchen musste. Zu dem unangenehmen Brennen im Hals war ein komisches, pelziges Gefühl auf der Zunge gekommen. Irgendetwas brütete sie aus, und wenn sie nicht die freien Tage krank im Bett verbringen wollte, dann musste den Viren jetzt sofort zu Leibe gerückt werden.

Also nahm Jessica die nächste Abfahrt, folgte der Beschilderung zum Ortszentrum und hielt vor einem großen Walmart. In der Drugstore Abteilung ließ sie sich ein Antiallergikum und eine Packung Theraflu aushändigen. Sie reichte dem Mitarbeiter die passend abgezählten Münzen und nahm dankbar ihr Tütchen mit dem Medikamenteninhalt entgegen.

Ihre restliche Fahrt unterbrach sie noch ein weiteres Mal an einer Tankstelle in der Nähe des noblen Ortes Carmel by the sea. Als sie ihre Tankrechnung beglich, entschied sie sich noch für ein Päckchen Kaugummis. Der Angstellte, ein junger Mann mit einer Arco-Basecap, reichte ihr freundlich das Wechselgeld und die Airwaves-Packung.

Als ihr Bruder sie eine gute Stunde später in seinem Häuschen im Alamo Square empfing, fühlte sich ihr Hals seltsam geschwollen an und sie gab bei jedem Atemzug ein bedenkliches Pfeifen von sich.

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