Kapitel 37 - It's raining monsters

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Motorräder mit röhrendem Sound verfolgten mich durch enge, verwinkelte Gassen einer mir vage bekannten Stadt. Ich rannte, aber trotzdem kam ich nicht vom Fleck. Es fühlte sich an wie in einem Film, der in Zeitlupe abgespielt wird. Das Dröhnen kam näher und näher, wurde lauter und lauter.

Ich schnappte nach Luft und wachte auf.

Doch das nervtötende Geräusch war noch immer da.

„Ey, was ist das denn", rief ich verärgert, quälte mich aus der Horizontalen und schob meine Beine über die Bettkante.

„Die Spinnenjagd hat begonnen", antwortete mir Levy aus der Küche.

„Bah!", kommentierte ich, „ich will die jedenfalls nicht im Haus haben."

Levy trat in unser Schlafzimmer, eine Tasse Kaffee in der Hand und betrachtete mich mit einem nachsichtigen Blick.

„Ava, sie vergiften diese Tiere. Wieso sollten sie denn in die Wohnung kommen?"

„Dein Wort in Gottes Ohr", erwiderte ich skeptisch und stapfte an ihm vorbei, auf direktem Weg in die Küche, wo ich mir ebenfalls einen Kaffee genehmigte. Mit der gefüllten Tasse in der Hand blickte ich durch das kleine Fenster hinaus auf die Straße und die angrenzenden Gärten.

Auch wenn der Hintergrund ein ernster war, so konnte ich doch nicht anders, als mich über die in Schutzanzüge verpackten Gestalten zu amüsieren. Wie gefährliche Außerirdische sahen sie aus, mit ihren kastenförmigen Kopfbedeckungen. Aber auch ihr komödiantischer Anblick schaffte es nicht, die Gänsehaut zu vertreiben, die sich auf meinen Unterarmen gebildet hatte.

Ich setzte mich auf einen der postmodernen Metallstühle, die wir in einem völlig überteuerten Einrichtungshaus erstanden hatten, und angelte, in Ermangelung einer besseren Ablenkungsmöglichkeit, nach der Zeitung auf dem Küchentisch.

Mäßig interessiert blätterte ich durch die einzelnen Seiten, während ich zwischendurch an dem noch immer heißen Kaffee nippte.

Ich übersprang die Todesanzeigen, die seltsamerweise ja auf viele Menschen eine abstruse Anziehungskraft ausübten, ignorierte den Sportteil und wollte mich gerade einem Bericht über den neusten Kinofilm mit Kevin Costner zuwenden, als eine andere Überschrift meine Aufmerksamkeit erregte.

Kryptonit-Menschen: Sind wir ihnen willenlos verfallen?

Der Kinofilm war vergessen und ich fing an, mich in den Text über willenlos verfallene Opfer zu vertiefen.

Himmel, lass mich bloß nicht dazu gehören.

Kryptonitmenschen sind diejenigen, die uns ein Leben lang zu fesseln verstehen.

Ein Leben lang? Hilfe!

Sei es der Ex-Partner oder die Jugendliebe, unerwartet viele Menschen haben diese eine Person, die sie einfach nicht vergessen können. Sie nimmt uns immer noch gefangen, obwohl wir längst getrennte Wege gehen.

Dieser Artikel schaffte es sogar, mich von der Spinnenaktion da draußen abzulenken. Gespannt las ich den gesamten Text.

In der Comicwelt von Supermann bezeichnet Kryptonite ein fiktives Mineral. Es ist die einzige Schwachstelle des Helden, denn es beraubt ihn seiner übernatürlichen Kräfte. Ebenso wie das Mineral für Superman, so sind es im realen Leben der Ex-Partner oder die Jugendliebe, die unsere persönliche Schwachstelle ausmachen. Und dabei kommt es nicht darauf an, ob diese Liebe von kurzer Dauer war oder Jahre angedauert hat.

Heilige Scheiße. Die haben den Artikel über mich geschrieben.

Doch ist dieser Kryptonitmensch eine Gefahr für die aktuelle Beziehung?

Oh ja!

„Ava? Hast du gesehen, sie sind anscheinend fertig mit ihrer Spinnenjagd", rief Levy und riss mich damit aus meiner beunruhigenden Recherche.

Schnell faltete ich die Zeitung zusammen und legte sie wieder an ihren Platz zurück.

„Irgendwas stimmt da nicht", sagte Levy gerade laut, „schau dir das mal an."

„Wo bist du?"

„Im Wohnzimmer. Das ist echt schräg, komm mal bitte."

Mit einem unguten Gefühl folgte ich seiner Aufforderung. Ich fand ihn am Fenster stehend vor, den Blick zum Himmel gerichtet.

Was ich dann sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.

Mehrere Spinnen, etwa handtellergroße, bräunliche Tiere, waren die Bäume emporgeklettert und spannen dort nun in Windeseile Netze zwischen den Ästen. Spinnweben verbanden die Eschen und Sycamores, die zu einer Vielzahl in den Gärten standen. Es sah aus, als wären die Bäume eingeschneit. Und mittendrin in dem fröhlichen Schneetreiben saßen braune unansehnliche Kleckse.

Ich wimmerte.

Offenbar waren die Tiere vor dem Gift am Boden geflohen.

Ich hatte schon von diesem Phänomen gelesen, in Australien kam es sogar recht häufig vor, allerdings eher nach ausgiebigen Regenfällen. Man bezeichnete es als Spinnenregen.

„Weshalb haben die ihr Gift nicht in der Kanalisation versprüht? Hier draußen ist das doch sowieso vollkommen sinnlos", klagte ich.

Levy behielt weiterhin die Bäume im Visier während er mir antwortete.

„Die Kanalisation ist ein riesiges unterirdisches Areal. Da kann man nicht mal so eben mit so einem Gerät rein und die Rohre ansprühen. Ich glaube man legt eher Köder aus. Und das kann dann dauern."

„Das läuft ja alles hervorragend", erwiderte ich und erschrak über den verängstigten Ton in meiner Stimme.

Mit Entsetzen beobachtete ich, wie die filigranen weißen Fäden nun auch in unsere Richtung wehten und mehrere Tiere über diese geisterhaften Wege auf das Wohnhaus zusteuerten.

Ich fing an zu schreien.

„Jetzt reiß dich mal zusammen, wir haben doch auch die elektronische Spinnenabwehr, was soll denn passieren?"

„Mach das Fenster zu", kreischte ich und versuchte nun meinerseits den Kunststoffgriff zu erreichen.

Doch ich war nicht schnell genug. Paralysiert beobachtete ich, wie sich dünne Spinnenbeine durch die schmale Öffnung des gekippten Fensters schoben. Es erschien mir wie vorhin in meinem Traum. In Zeitlupe. Erst die vorderen Gliedmaßen, dann der dicke, runde Körper, und schließlich die restlichen sechs Beine. Und ich stand unbeweglich dabei.

Die Spinne krabbelte über die Fensterbank und fiel von dort auf den glatten Fliesenboden. Sie torkelte einige Schritte unkoordiniert umher, bewegte sich dann jedoch weiter vorwärts. Vermutlich hatte sie eine gehörige Portion des Giftes abbekommen, aber darauf wollte ich mich nicht verlassen.

„Hol ein Glas oder sowas", wies Levy mich an. Er wirkte vollkommen gelassen.

„Eher einen Eimer", fauchte ich, schaffte es aber noch immer nicht, mich aus meiner Lethargie zu befreien.

Erst als die Spinne ihre Richtung änderte und langsam aber zielstrebig auf mich zukam, schoss das Adrenalin in meinen gesamten Blutkreislauf und instruierte meine Muskeln, sich doch endlich zu bewegen.

Kurz erfassten meine von Panik geweiteten Augen den Raum, auf der Suche nach einer geeigneten Waffe, dann stürzte ich auf das nächststehende Bücherregal zu, riss das dickste Buch heraus, das ich finden konnte, und schmetterte es auf den dünnbeinigen Eindringling.

Levy betrachtete die merkwürdige Szene mit einem fast analytischen Gesichtsausdruck. Ich hatte den Feind mit der Encyclopædia Britannica erschlagen.

„Das nenne ich mal einen intelligenten Tod", sagte er trocken.

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