ꕤ Kapitel 5 ꕤ

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Über Dach und Ziegel
𝙹𝚎𝚛𝚎𝚕𝚢𝚗
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𝙴𝚒𝚗𝚊𝚛 rannte an der Spitze und Cassia zwischendurch stolpernd gute sechs Fuß hinter ihm, während die Rufe der teuflischen Frau leiser wurden. Jerelyn flog neben ihr her, doch die Jugendliche schien sie gar nicht wahrzunehmen. Den Blick stur nach vorne gerichtet lief sie immer weiter, die Gedanken fern am Horizont.

Sie konnte sie nur zu gut verstehen. Ihre Schockstarre vorhin hatte es nur allzu deutlich gemacht. Cassia hatte mit einem Schlag alles verloren, was sie geliebt hatte.

Ihre Heimat. Ihre Familie. Ihre Identität.

Niemand sollte so viel an einem Tag durchleben wie sie es heute gemusst hatte. Niemand hatte das verdient.

Für so eine einschneidende Veränderung sollte man mehr Zeit haben. Zeit sich zu überlegen, ob man es wirklich wollte. Die Vor- und Nachteile abwägen. Eventuell Andere um Rat fragen, um am Ende eine für einen selbst gute Entscheidung zu treffen. Normalerweise.

Unüberlegtheit und Emotionalität führten zu Dingen, die man hinter her bereute...

Aber die Zeit drängte, denn sie wussten immer noch nicht, wo Aurelia war oder ob sie überhaupt noch lebte.
Ihre Prima hatte in letzter Zeit des Öfteren etwas von einem Weltuntergang gefaselt und ihre Einschätzungen sollte man nicht missachten, denn sie bargen oft einen wahren Kern.

Jerelyn sorgte sich sehr um Aurelia, denn selbst in Nautabury, wo die Menschen sie lange akzeptiert und respektiert hatten, veränderte sich die allgemeine Stimmung.
Und zwar nicht im positiven Sinne.

Das Tuscheln erfolgte nicht mehr mit einem Lächeln im Gesicht, sondern mit ausdruckslosen Masken, hinter denen sich Vorurteile versteckten. Das heimliche Flüstern legte sich als Nebel über die Straßen und breitete sich unaufhaltsam aus. Ihr Name wurde ersetzt durch ihren Titel: Hexe.
Ihre Persönlichkeit dahinter vergessen.

Dabei war Nautabury eine weltoffene Stadt gewesen, stets in Kenntnis über die neuesten Entwicklungen in Europa und dem Rest der Welt. Sei es in der Wissenschaft, die die Industrielle Revolution vorantrieb, oder in der Politik, wenn die Kunde über den Wiener Kongress die Runde machte.

Doch seit die Seuche ausgebrochen war, hatte sich das schlagartig geändert.
Abgeschottet von der Außenwelt hatte sich nicht nur eine Krankheit ausgebreitet.
Denn mit der Epidemie kamen Angst und Panik, die die Menschen in kürzerer Zeit dahinrafften als der schwarze Tod es getan hatte.

Diese Situation bot den perfekten Nährboden für Verschwörungstheorien und Heilprediger vermehrten sich wie die Ratten. Sie fütterten die verschreckten Herzen der Menschen mit Lügen und Listen.

Sie drehten die Uhr der Zeit um Jahrhunderte zurück und vernichteten den hart erkämpften Fortschritt.
Und die Menschen in ihrer Angst glaubten ihnen nach und nach.
Sie glaubten, dass es eine Strafe von Gott war.
Sie glaubten, dass die Hexen daran Schuld waren.
Am Ende glaubten sie ihnen alles.
Die Religion hatte zu ihrer alten Stärke zurück gefunden. Man überlegte sogar, das Kloster St. Augustine wieder auf zu bauen, aber dafür fehlte das Geld.

Nicht, dass Jerelyn etwas gegen Religion hätte. Sie fand es schön, dass es manchen Menschen half und ihnen Licht in dunklen Zeiten spendete.

Doch dieses Verständnis hatte seine Grenzen und diese fingen dort an, wo Religion als Grund für Verbrechen genutzt wurde oder andere in den Glauben gezwungen wurden.
Jeder sollte selbst entscheiden, woran und ob er glauben möchte.

Jene Heilprediger, die den Menschen falsche Worte in den Mund und böse Gedanken in den Kopf legten, hatten die Grenze mehr als überschritten.
Sie hatten es schon vor dem Beginn der Epidemie versucht, aber ihre Ideen waren nie auf fruchtbaren Boden gefallen.

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