Kapitel 13 ≋ In dem wir stalken und ghosten ...

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Wenn ich etwas genauso sehr liebe wie den leichten Geruch von Chlor, dann ist es der Duft von Büchern. Echten Büchern. Papier, Druckerschwärze, bei alten Exemplaren vielleicht ein Hauch von Staub und Vergangenheit. Ich stehe zwischen den Regalen der Bibliothek, schließe die Augen und ziehe die Luft tief ein. Die Atmosphäre hat etwas Beruhigendes und lässt mein heftig pochendes Herz wieder langsamer schlagen.

Nachdem ich zwei Stunden lang mit Tessa im Arbeitsbereich der Unibibliothek Lernzettel geschrieben habe, musste ich mir dringend die Füße vertreten. Möglicherweise haben mein rasender Puls und meine anschließende Flucht auch ein bisschen etwas damit zu tun, dass vor ein paar Minuten Kyle und sein Freund Jackson aufgetaucht sind und sich an einem Tisch neben uns breit gemacht haben. Seitdem ist meine Konzentration ins Nirwana entschwunden, denn meine Gedanken kreisen nur noch um ein Thema: den Wassergott.

Bisher habe ich ihn noch nie in der Bibliothek gesehen, deshalb habe ich mich hier relativ sicher gefühlt. Nun muss ich sie wohl auf die Liste der Orte setzen, an denen ich ihm jederzeit begegnen kann.

Ich bin mir selbst gegenüber nicht naiv genug, zu glauben, dass ich gegen das Gesamtpaket Kyle McBrennan immun bin. Auch wenn ich mir gerne etwas anderes einreden würde, bin ich letztendlich genauso anfällig wie der Rest der Studentinnen an dieser Uni. Wenn ich ehrlich bin, sehne ich mich genauso nach seiner Aufmerksamkeit wie wahrscheinlich jedes andere Mädchen, das jemals in den Bann seiner blauen Augen und seines Sonnenscheinlächelns geraten ist. Und wenn man Gefahr läuft, nach etwas süchtig zu werden, dann ist das beste Heilmittel seit jeher der kalte Entzug.

Seit fast zwei Wochen gehe ich ihm inzwischen aus dem Weg. Zwei Wochen, in denen ich während des Trainings nur das Nötigste mit ihm gesprochen habe. Zwei Wochen, in denen wir uns außerhalb des Trainings nur dieses eine Mal im Diner gesehen haben, und zwei Wochen, in denen ich mir sogar verstohlene Blicke aus der Ferne in seine Richtung verboten habe. Denn wie heißt es so schön: Aus den Augen, aus dem Sinn.

Ich habe gehofft, dass seine Wirkung auf mich in der Zwischenzeit nachgelassen hat oder dass ich zumindest besser darin geworden bin, sie zu ignorieren. Sein Auftauchen in der Bibliothek hat mich leider eines Besseren belehrt. Bis es soweit ist, wird es wohl noch eine ganze Weile dauern.

Resigniert stoße ich die Luft aus und lasse meinen Blick über die Buchrücken in den Regalen schweifen, bis ich finde, was ich gesucht habe. Ich habe mich bei Tessa mit der fadenscheinigen Ausrede entschuldigt, dass ich noch ein paar Bücher für mein Sportwissenschaftsstudium zum Lernen holen möchte, aber aus irgendeinem Grund bin ich in der völlig falschen Abteilung gelandet. Bei den Klassikern.

Das trifft sich gut, denn neben dem trockenen Lernstoff brauche ich heute dringend auch noch etwas fürs Herz. Mit einem versonnenen Lächeln auf den Lippen greife ich nach meinem allerliebsten Lieblingsbuch.

Wenn man schon bewusst auf eigene Liebesgeschichten verzichtet, muss man sich eben in eine der schönsten hineinträumen. Ich warte nicht lange, sondern schlage das Buch gleich auf und lese die erste Zeile, während ich meine Tasche vom Boden aufhebe und mich in Bewegung setze.

It is a truth universally acknowledged, that a single man in possession of a good fortune must be in want of a wife.

In die Buchstaben vertieft, biege ich um die Ecke eines Regals und laufe ungebremst gegen etwas Hartes, Breites. Mein Buch fällt mir aus der Hand und meine Tasche landet mit einem lauten Knall auf dem Boden. Das Harte, Breite trägt ein rotes T-Shirt mit gelbem Dreizack-Emblem und duftet fantastisch nach einem treuen Aftershave und einem Hauch von Chlor. Ich muss gar nicht erst aufblicken, um zu wissen, wem dieser Geruch gehört. Leise seufze ich und gönne mir einen stillen Moment, um mein Pech zu verfluchen.

Tiefe Wasser sind nicht stillWo Geschichten leben. Entdecke jetzt